An manchen Orten spukt es. Wenn man im ersten Bezirk in Wien, gegenüber der abgetakelten Eden-Bar, die Stiegen runter ins Theater im Zentrum geht, dann ist man an einem jener Orte in Wien, die magisch sind, die nach Theatergeschichte riechen, an denen man die Geister spüren kann, wenn man es denn will und zulässt. Fritz Grünbaum hat hier inszeniert und gespielt, Karl Farkas, Oscar Bronner und Helmut Qualtinger.

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Jetzt ist das Kleinod mit seinen 230 Plätzen Teil des Theaters der Jugend. Vor ein paar Monaten hat hier der Chefdramaturg des Hauses – Gerald Maria Bauer„Ein Kind“ von Thomas Bernhard auf die Bühne gebracht und einen Spagat geschafft: Sowohl Kritik als auch das junge Publikum waren begeistert. „Ein rundum geglücktes Unternehmen“, so die „Salzburger Nachrichten“. Ein paar Kilometer weiter im Renaissancetheater in der ­Neubaugasse gelang Thomas Birkmeir, dem Chef des Hauses, dasselbe Kunststück. Seine Bearbeitung (als Autor und Regisseur) von Wedekinds „Frühlings Erwachen“ entzückte Kritik und Zuschauer*innen. Zitat aus den „SN“: „Eine geglückte wie beklemmende Überschreibung für die Generation Z.“

Mit dem Herzen ist man immer am richtigen Punkt.

Thomas Birkmeir

Jetzt sitzen die beiden im Lichtkegel und lächeln für die Kamera der BÜHNE-Fotografin. Wir plaudern inzwischen mit Fritz Gmoser, dem Lichtmann. „Das Theater hier ist wichtig, weil es die Jugend zum Fantasieren anregt.“ Was für ein schöner Satz. Wir sind hier, weil wir uns aus erster Hand erklären lassen wollen, was in den kommenden Monaten im Theater der Jugend auf die Bühne kommt und warum. Vorab: Drei der insgesamt acht Premieren behandeln literarische Vorlagen, die im ersten Moment alles andere als jugendgerecht scheinen. Man geniert sich in der Sekunde für den Gedanken, weil ja mit Bernhard und Wedekind bereits der Beweis erbracht wurde, dass vermeintlich komplexe Stoffe auch für das jüngere Publikum funktionieren.

Vom Mittelhochdeutschen ins Jetzt

Springen wir kurz in den April 2024. Da wird Michael Schachermaier den zwischen 1200 und 1210 entstandenen Versroman „Parzival“ von Wolfram von Eschenbach, der aus 25.000 paarweise gereimten Versen besteht, spiel- und konsumierbar zu einem Zweistünder eindampfen. (Premiere ist am 23. April im Theater im Zentrum.)

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Thomas Birkmeir: „Es ist ein Herzensprojekt von Michael Schachermaier, und mit dem Herzen ist man schon am richtigen Punkt. Er hat Spaß an den großen Themen, die eigentlich unbewältigbar scheinen. In ‚Parzival‘ ist alles drinnen – inklusive des großen Themas der Mutter-Sohn-Beziehung. Und diese Helikoptermütter sind ja aus unserer Welt nicht mehr wegzudenken.“ Birkmeir lächelt, sieht den ungläubigen Blick ob der Umsetzbarkeit des Romans und setzt nach: „Wenn es einer schafft, dann Schachermaier, der mit ‚Moby Dick‘ bewiesen hat, wie man solche Brocken erfolgreich in das Heute bringt.“

Kafka war ein sehr sinnlicher Mensch, mit vielen Bedürfnissen und Selbstzweifeln.

Gerald Maria Bauer

Kafkas Tagebuch

Im Jänner davor (Premiere: 12. Jänner im Theater im Zentrum) nimmt sich Dramaturg Gerald Maria Bauer nach Bernhard einen anderen Großen der Literatur vor: Franz Kafka. „Im Panoptikum des Franz K.“ wird das Stück heißen. Bauer: „Ich glaube, es ist im Moment gerade interessant, dass der Mensch auch aus Gedanken besteht und nicht nur aus Gefühlen – und eines Abends saßen Zwölfjährige bei einem Publikumsgespräch nach dem Bernhard-Stück vor mir und meinten, sie fänden das auch. Da dachte ich mir: Okay, wenn diese Altersgruppe sich mit Literatur beschäftigt, die man heute so nicht mehr findet, dann ist das doch eine Angel, die man auswerfen kann. In Kafkas Tagebüchern ist der Generationskonflikt ein Thema. Genau wie die Frage, wo man im Leben steht. Kafka war ein höchst sinnlicher Mensch mit vielen Bedürfnissen und Selbstzweifeln, und er hatte – was wenige wissen – einen unglaublichen Humor.“

Theater der Jugend Wien
Thomas Birkmeir und Gerald Maria Bauer im ­Zuschauerraum des Theaters im Zentrum: Ersterer ­adaptiert ­Johanna von Orléans, Letzterer Kafka.

Foto: Victoria Nazarova

„Johanna, Gotteskriegerin“

Thomas Birkmeir hat sich einem anderen literarischen „Berg“ gewidmet und sich sowohl durch die Gerichtsprotokolle als auch durch die umfangreiche Literatur gearbeitet, die sich mit dem Leben und Sterben der Johanna von Orléans beschäftigen. Sein Stück „Johanna, Gotteskriegerin“ wird am 3. April im Renaissancetheater Premiere feiern. „Ich beschäftige mich schon seit 30, 40 Jahren mit dem Stoff und wollte ihn immer machen, und jetzt erlaube ich mir das.“ 

Birkmeir grinst in Richtung seines Chefdramaturgen: „Gerald war ja gegen diesen Titel. Aber ich finde, er passt. Die Geschichte einer Frau, die im Alter von 14 Jahren losgezogen ist und dann mit 19 am Scheiterhaufen verbrannt wurde, und die Frage: Was bringt einen Menschen dazu, eine Mission bis zur Selbstzerstörung durchzuziehen? Eine junge Frau, der hunderte Männer verfallen waren, die Hosen trug, obwohl es ihr verboten war. Eine Frau, die sich selbst opferte, und eine Frau, die auch dann noch Witz hatte, als sie verhört wurde.“

„Die Schöne und das Biest“

Lassen Sie sich nicht täuschen: Auch wenn es so klingt – nein, es ist nicht das Disney-Musical, das Sie zu sehen bekommen. (Premiere ist am 28. Mai/­Renaissancetheater.) Regisseur und Autor Henry Mason hat sich des Stoffes angenommen. Gerald Maria Bauer: „Man kennt das Musical, aber kaum jemand kennt das Originalmärchen.“

„Die Schöne und das Biest“ ist ein altes Volksmärchen aus Frankreich („La Belle et la Bête“). Die erste Veröffentlichung erfolgte 1740 durch die Französin Gabrielle-Suzanne de Villeneuve. Diese griff wiederum auf Motive zurück, die sich in einer italienischen Märchensammlung aus dem 16. Jahrhundert finden. Britische und portugiesische Forscher wollen herausgefunden haben, dass das Märchen mit großer Wahrscheinlichkeit älter als 2.500 (!) Jahre ist. Direktor Birkmeir: „Die Dämonisierung von Menschen, die anders sind, ist noch stärker geworden als früher. Ich finde, das alleine ist ein Grund, das Stück zu zeigen.“

„Der geheime Garten“

Wir springen zur ersten Produktion des Jahres (Premiere: 10. Oktober/Renaissancetheater). Thomas Birkmeir hat den Frances-Hodgson-Burnett-Klassiker, der bereits achtmal verfilmt wurde und Anfang der 90er ein erfolgreiches Musical war, bearbeitet. Der Inhalt: Mary wird Waise und muss zu ihrem Onkel nach England. Auf dessen Grundstück entdeckt sie einen geheimen Garten, um den sie sich gemeinsam mit dem vermeintlich gelähmten Cousin Colin und dem Bauernsohn Dickon kümmert. Birkmeir: „Der Garten ist ein Symbol dafür, dass die Kinder nicht nur die Welt retten, sondern sie auch eine Spur schöner machen. Es ist die Geschichte von drei vollkommen unterschiedlichen Kindern, die eine enorme Widerstandskraft entwickeln und einen Ort finden, von dem aus sie gegen die Erwachsenenwelt und die Unvernunft rebellieren.“

„Lizzy Carbon“

Der preisgekrönte Bestseller von Mario Fesler über die 13-jährige Lizzy und ihre besten Freundinnen, die mit ihrem „Klub der Verlierer“ ein Schulprojekt mit dem Namen „Das Dunkelrestaurant“ umsetzen, wird zum Musical (Premiere: 17. Oktober/Theater im Zentrum). Das preisgekrönte Musical-Duo Thomas Zaufke und Peter Lund hat es aufbereitet. Direktor Thomas Birkmeir: „Vor 20 Jahren haben die beiden bereits für unser Theater gearbeitet. Sie haben mittlerweile Karriere gemacht, aber kommen zu uns zurück, weil sie Wien und unser Theater lieben – das ist ihnen hoch anzurechnen, denn Musical ist eine Theaterform, die gerade im Kinder- und Jugendbereich wahnsinnig wichtig ist. Ich freue mich drauf.“

„Siri und die Eismeerpiraten“

In Frida Nilssons großem Roman kämpft sich Siri tapfer durch eine fantastische nordische Welt, in der es Eiswölfe und ihre Jäger gibt, merkwürdige Tiere und sogar Meerjungfrauen und – am allermerkwürdigsten – auch Menschen. Siri ist mit einem feinen Gespür dafür ausgestattet, was in ihrer Welt das wirklich Gefährliche ist: Es ist die Gier derer, die sich von der Natur und voneinander mehr nehmen, als ihnen zusteht. Thomas Birkmeir: „Es ist eine Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus, der Antrieb sein kann, aber auch Zerstörung. Wir wollen den Kindern mitgeben, dass sie sich mit der Frage auseinandersetzen: Wie gehen wir sozial miteinander um?“

„Pünktchen und Anton“

Der Erich-Kästner-Klassiker feiert am 20. Februar im Renaissancetheater Premiere. „Die Arm-Reich-Schere geht wieder weiter auf“, sagt Thomas Birkmeir. Stimmt. Aber solange der Theaternachwuchs dafür sensibilisiert wird, wird die Welt auch eine bessere werden …