Julya Rabinowich: Freibrief an die Neugierigen
In ihrer neuen Kolumne widmet sich die Schriftstellerin Julya Rabinowich dem Neuen und Altem, dem Unbekannten und der Neugier - und dem Theater.

Foto: Michael Mazohl
Das Unbekannte ist immer nah. Das gilt für Menschen, Tiere, Attraktionen ebenso wie für Bücher, Filme, Theaterstücke, Speisekarten, Schattenseiten der Verpartnerten (wobei Letztgenannte einige Bücher, Filme und Theaterstücke anfüllen, es ist quasi ein Fall von klassisch kommunizierenden Gefäßen und Häferln). Kurzum: Das Unbekannte ist zwar immer nah, aber nicht immer schön.
Für die Verpartnerten und Speisekartennutzen- den ist das nicht unbedingt erfreulich. Für Film, Bühne und Theater ist das mögliche Üble aber sehr, sehr gut. Ohne Abgründe kein intensives Kunsterleben. Romeo und Julia, die keifend in ihrem Wochenendhäuschen in der Pension landen, würden als Theaterstück nicht wirklich vom Hocker reißen.
Romeo und Julia hingegen, die aufgrund der dramatischen Verkettung aller größtanzunehmenden Unfälle elend – aber die Liebe schwörend, wenn auch nicht gleichzeitig – nebeneinander verrecken, allerdings sehr wohl.
Das Sichere hat eben einen schalen Beigeschmack.
Das Neue ist trotz aller Risiken manchmal einfach köstlich. Oder absurd. Das Elend allein macht ja das Theater nicht aus. Tragikomödisches lehrt lustig das Leiden. Kabarett verführt zu Erheiterung, triezt dabei allerdings die Machthabenden, führt Könige vor, verschont das Fußvolk nicht und macht Unausgesprochenes lachbar.
Es gibt Dinge zwischen Buchseiten und Bühnenbrettern, Horatio, von denen sich eure Schulweisheit nichts träumen lässt. Das Unbekannte lädt aber ein zu träumen. Das Unbekannte ist so nah, dass es nicht nur gewagt werden kann, sondern auch bald betretbar werden wird.
Der Herbst steht nach dem sommerlichen Atemholen an und mit ihm Neues und Altbekanntes. Die Tage werden kürzer, die Winde kälter, das Gold auf gebräunter Haut verblasst, das Kulturprogramm gewinnt hingegen an Kontur. Es gibt spannende Neuübernahmen und Interpretationen des Altbekannten. Es ist insgesamt nichts anderes als eine Einladung an die Neugierigen aller Altersstufen und Überzeugungen: Das Theaterschiff sticht in raue stahlgraue See und in liebliche Sonnenuntergänge am Horizont.
Das Neue, sei es schön oder beängstigend, muss allerdings erst gewagt werden. Es wartet. Wer in dieses Neue hineinblickt, in den blickt das Neue zurück, und dort, wohin das Neue geblickt hat, ist nichts mehr, wie es vorher war. Man hat sich verändert, ist zu etwas Weiterblickendem, anderem geworden. Und das Neue ist nun nicht mehr neu.
Das ist der Preis und die Verlockung, die die Transformation durch Neugier mit sich bringt; angeblich hat sie zwar sogar die Katze getötet, aber ich verwahre mich gegen solche Brutalitäten, den frühen Vogel hat sie jedenfalls verschont. Die Neugier, also Gier nach Neuem, hat an und für sich mit Gierigkeiten aller Art, die doch so wenig Erleuchtendes in sich tragen, nichts zu tun: Neugier ist einfach nur die totale Öffnung, das totale Risiko, das Leben in all seinen Facetten wahrzunehmen, mehr zu erfahren, als man bis dahin kannte. Die Welt auf mannigfaltige Art zu beleuchten, zu begreifen, zu erfahren.
Neugier ist, kurz zusammengefasst, die absolut radikalste Art, sich dem Leben zu stellen und ihm (trotz und wegen allem!) ein lautes Ja! entgegenzuröhren, um gleich danach ein verführerisches Je t’aime zu hauchen.
Noch kürzer zusammengefasst versteige ich mich sogar zur Behauptung: Neugier ist schlicht ein Orgasmus des möglichen Seins.