Unverstellte Bewunderung. Fragt man Martin Schläpfer, Direktor des Wiener Staatsballetts, warum er Alfred Schnittkes 3. Klavierkonzert für ballettwürdig erachtet, manifestiert sich im Gesicht des meritenreichen Choreografen ein Leuchten. Für die Dauer der Antwort wird es auch nicht mehr erlöschen.

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„Mich hat seine Musik immer berührt“, erklärt er mit weichem Unterton. „Das Moderne an Schnittke ist, dass er zitiert und einbettet, dabei aber seine eigene Kompositionsweise hat. Es ist weniger der Sound, der ihn zeitgenössisch macht, als vielmehr die dahinterstehende Philosophie, denn so funktioniert auch unsere Gesellschaft: Wir absorbieren und integrieren, wir können nicht mehr trennen, wenn wir dauerhaft überleben wollen. Das 3. Klavierkonzert ist irritierend schön, eine transzendente große Musik, die so viel an Conditio humana in sich trägt.“

Dazu mag, mutmaßt Martin Schläpfer, auch Alfred Schnittkes an Brüchen reiches Leben beigetragen haben. Geboren 1934 in der Sowjetunion, begann er seine musikalische Ausbildung in Wien, wo sein Vater als Kriegsberichterstatter tätig war. Mit 51 Jahren erlitt er einen Schlaganfall und war klinisch tot, ein Vorfall, der allerdings auch ungeheure Schaffenskräfte freisetzte. 1990 emigrierte er nach Deutschland, konvertierte vom Juden- zum Christentum, überlebte weitere drei Schlaganfälle und starb schließlich mit nur 63 Jahren in Hamburg.

Bedeutsame Frauen

Martin Schläpfers Choreografie des 3. Klavierkonzerts wurde 2000 mit dem ballettmainz uraufgeführt und bildet nun an der Volksoper – gemeinsam mit Karole Armitages „Ligeti Essays“ und Paul Taylors „Dandelion Wine“ – einen jener Triple-Abende, für die der Ballettdirektor bekannt ist. Und die er, oft genug gegen Widerstände, durchgesetzt hat, um die Eigenständigkeit der Kunstform Tanz zu manifestieren.

Seine damalige Inspiration war die Tänzerin Kirsty Ross, der er seine Arbeit widmete. „Ich habe sie sogar zu einem Zeitpunkt engagiert, als sie schwanger war und kaum vortanzen konnte, weil ich sie so spannend fand. Das Stück zeichnet die Reise einer Frau nach, die viel mit Kirstys eigenem unruhigen Leben zu tun hat. Sie hatte den Mut, sich zu exponieren, ohne sich zu fragen, was wohl andere sagen könnten.“

Ich will mich nach dreißig Jahren Nonstop-Arbeit einmal hinsetzen und darüber nachdenken, was ich wirklich möchte.

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Die zweite Kreativquelle war eine enge Freundin Martin Schläpfers, die viele Jahre lang nach Liebe suchte. „Und als sie endlich ihr Gegenüber gefunden hatte, kam der Mann zwei Wochen später bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Dieses Ereignis fand ebenfalls Eingang in meine Kreation.“

Im Ballett ist die Protagonistin mit unterschiedlichen Formen zwischenmenschlicher Begegnungen konfrontiert, die von Freundschaft über bloßes Begehren bis zur Liebe reichen.

Am Anfang sieht man sie mit einem guten Freund, der plötzlich mehr von ihr will, als sie zu geben bereit ist, und deshalb gehen muss. Später kommt ein junger Mann hinzu, mit dem die Funken sprühen, ohne dass es Liebe wäre. Auf ihn folgt jener Liebhaber, der metaphorisch mit dem Flugzeug umkommt. In ihrem Schmerz wird sie von einem Engel beschützt.

„Am Ende ist sie geläutert und geht ihren eigenen Weg, ganz ohne Drama. Kirsty Ross war auch so, obwohl äußerlich beinahe zerbrechlich, hat sie ihr Leben in allen verdammten Schwankungen gelebt.“ Und tut es heute noch, mittlerweile als Krankenschwester, verheiratet mit ihrem früheren Tänzerkollegen Nick Hobbs, der als Tischler arbeitet, in Australien. An der Volksoper übernehmen Mila Schmidt und Nina Cagnin ihren Part.

Volksoper
Gemeinsam mit den „Ligeti Essays“ von Karole Armitage und Paul Taylors „Dandelion Wine“ ergibt sich für das Publikum der exklusive VOP-Ballettabend „The moon wears a white shirt“.

Foto: Florian Moshammer

Exklusiv für die Volksoper

The moon wears a white shirt“ ist die erste Arbeit, die Martin Schläpfer ausschließlich den Tänzer*innen der Volksoper überantwortet. Warum passiert etwas, was er seit Beginn seiner Direktion immer wieder als wichtiges Anliegen bezeichnet hat, erst jetzt?

„Über diese Frage bin ich froh. Erst musste ich die Häuser und den Betrieb in seiner ganzen Komplexität kennenlernen, dann hat die Pandemie das Tempo ein wenig gedrosselt, da es plötzlich nicht mehr um Zusammenführung ging, sondern um Separation“, erinnert er sich.

„Wann immer eine Fusion der beiden Compagnien Staatsoper und Volksoper für ein Ballett möglich war, habe ich sie gesucht. Das ist allerdings schwer, weil die Tänzer*innen der Volksoper viele Dienste in Oper, Operette und Musical am Haus haben. Es ist darüber hinaus aber auch zwingend, ihnen einen eigenen Ballettabend zu widmen, weil man sie fordern und fördern muss, damit sie im Engagement bleiben. Sie müssen, neben ihren anderen Aufgaben, auch expliziten Tanz leisten dürfen, denn dafür haben sie ihre Ausbildung gemacht.“

Volksoper und Staatsoper funktionierten in ihrer Programmierung selbstverständlich getrennt, nur beim Wiener Staatsballett müsse man eine Disposition finden, die beide Häuser bediene. Mit „The moon wears a white shirt“ – der poetisch-sinnliche Titel entstammt den „Ligeti Essays“ – konnte der lang gehegte Anspruch nun erstmals erfüllt werden.

Nachdenken und Loslassen

Martin Schläpfer hat heuer bekannt gegeben, dass er mit Ende der Saison 2024/25 sein Amt als Ballettdirektor des Wiener Staatsballetts aufgeben wird. Ob er dem Tanz danach erhalten bleiben wird, weiß er noch nicht.

„Ich will mich nach dreißig Jahren Nonstop-Arbeit einmal hinsetzen und darüber nachdenken, was ich wirklich möchte. Will ich choreografieren? Will ich unterrichten? Oder will ich weiterhin in diesen Strukturen bleiben? Ich habe etwa 80 Choreografien gemacht. Will ich, dass diese weiter gepflegt und gezeigt werden? Oder sage ich: ‚Who cares?‘ Ich werde dann 66 Jahre alt sein und muss überlegen, ob ich im Tanz überhaupt noch etwas will oder ob mich nicht vielleicht das Schreiben mehr interessiert. Nicht unbedingt für eine Öffentlichkeit, sondern weil ich Literatur einfach geil finde. Ich will vor allem gut alt werden können, das verlange ich mir wirklich selbst ab, ich will nicht sein wie andere, die nicht loslassen können. Das wird mir nicht leichtfallen, aber ich möchte es hinbekommen. Es wird auch eine Rolle spielen, ob ich überhaupt noch Anfragen bekommen werde. Aber zuerst einmal möchte ich innehalten.“

Und zwar in seinem Haus im Tessin, im Valle Maggia.

An der Wand neben dem Schreibtisch in der Wiener Staatsoper erinnert ihn ein Foto dieses Hauses an seine Zukunft. „Auch wenn es so aussieht, ist es dort nicht nur einsam“, lächelt er. „Die Nachbarn laden einen wirklich zu Polenta ein, die sie in einem Kupfertopf kochen. Einmal, als es geregnet hat, hat mich ein Bauer, den ich nicht kannte, samt meinem Fahrrad aufgeladen und nach Hause gebracht.“

Er überlege auch, sich einen Hund anzuschaffen. „Das war immer mein Traum.“ Auf jeden Fall wolle er sich zu nichts mehr überreden lassen, „wozu ich leider neige, weil ich so erzogen wurde“.

Nun wolle er ganz bewusst Stopp sagen. Lange Nachdenkpause. Entspanntes Ausatmen. „Was für ein Luxus!“

Zur Person: Das Stück

Alban Bergs Oper „Lulu“, vor deren Fertigstellung er starb, entstand nach zwei Tragödien von Frank Wedekind. Sie behandelt das fatale Leben Lulus, ihre Beziehungen – im Zentrum Dr. Schön –, Aufstieg und Fall all ihrer Männer sowie ihren eigenen Absturz. Im MusikTheater an der Wien werden in Koproduktion mit den Wiener Festwochen die zwei von Berg vollendeten Akte, ergänzt um Teile der „Lulu“-Suite, gezeigt.