Unser Deutschlehrer am Gymnasium sagte: „Addieren Sie Ferdinand Raimund und Johann Nestroy, heraus kommt William Shakespeare.“

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Da lachten wir. Er lachte nicht. Und ausgerechnet mich fragte er: „Warum lachen Sie?“

Ich muss dazusagen: Dieser Professor duzte seine Schülerinnen und Schüler bis zum Ende der vierten Klasse, danach siezte er uns. Trafen wir ihn in den Ferien zwischen diesen Schulstufen, siezte er uns.

Ich antwortete: „Weil es doch nur ein Scherz sein kann, Herr Professor. Shakespeare … Shakespeare ist der Größte, größer als Sophokles, Euripides und Aischylos zusammen.“

Daraufhin sagte er sein notorisches: „Sie sind dumm wie Gras!“

Meine Güte! Jetzt habe ich die halbe Seite durchgelesen, und ich komme mir vor wie hundert Jahre zurückversetzt – dabei sind es eh nur fünfundfünfzig. Ich bin ein alter Sack! Aber ich liebe die Literatur! Wird mir das irgendwie gutgeschrieben?

Vor nicht langer Zeit, einem halben Jahr, hörte ich die Mittagssendung in Ö1, in der ein Gast eingeladen ist, dem man telefonisch Fragen stellen darf. Es ging um die neuen Richtlinien im Fach Deutsch im Gymnasium, vorzugsweise Oberstufe. Über alles Mögliche ist gesprochen worden – wie die Schüler mit den modernen Medien umgehen, wie sie sich verhalten und verhalten sollen, wenn sie sich gegenseitig SMS und Ähnliches schicken –, aber kein Wort über Literatur. Wie kann ich mich wappnen, wenn ich die „Kronen Zeitung“ lese? Aber nicht, auf welche Freude darf ich hoffen, wenn ich ein Gedicht von Rilke lese … Die Welt geht unter!

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Aber davon wollte ich nicht erzählen. Von unserem Deutschlehrer will ich erzählen – der uns gegen den Weltuntergang mit Belesenheit ausgestattet hat.

„Beim Nestroy“, breitete er sich aus, „haben wir es mit einem Schurken zu tun, der weder ein schlechtes Gewissen hat noch Mitleid kennt.“ Wer das Kleine, Schlechte, Miese, Feige, Klamme im Menschen aufzeige, sei vielleicht ein Pfarrer – er sagte „Pfaffe“ –, wer es aber aufzeige, ohne die Absicht, den Menschen zu bessern, sondern um sich über ihn lustig zu machen, ihn zu verspotten, der sei ein Schurke. So einer sei bei „Ende gut, alles gut“ und bei den „Lustigen Weibern von Windsor“ am Werk gewesen – Mister William Shakespeare also. Auf der anderen Seite Ferdinand Raimund. Sein „Brüderlein fein“ zerreiße jedes Herz – außer das Herz eines Schurken. Nestroy hat 1831 in Lemberg den Rappelkopf aus Raimunds „Alpenkönig und Menschenfeind“ gespielt, die Rolle war ihm wie auf den Leib geschrieben, ein bitterer, zynischer Menschenfeind eben, der allerdings am Ende bekehrt wird – durch überirdischen Zauber.

Unser Lehrer war ebenfalls ein Menschenfeind, aber einer mit romantischen Ideen und einem festen Glauben an die Zauberkraft der Literatur. Den Himmel stellte er sich ständestaatlich organisiert vor, also ein Himmel für die Bäcker, ein Himmel für die Hundertmeterläufer und eben auch ein Himmel für die Dichter. Er erzählte uns von diesem Himmel, er berichtete, als gehörte das zum Lehrstoff. Der Himmel der Dichter ist ein weiter Hügel. Auf seiner Spitze steht die Villa von William Shakespeare, gleich darunter sind Homer, Ovid, Dante, Cervantes, Montaigne und Goethe angesiedelt, und so geht das weiter bis in die Niederungen.

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Nun begann unser Lehrer im Klassenzimmer auf und ab zu gehen, die Hände auf dem Rücken übereinandergelegt. Das hieß: Jetzt kommt Bildung!

„Auf dem Gipfel des Hügels, gleich neben der Villa von Shakespeare, steht ein Haus im Rohbau“, dozierte er, „es wurde nicht fertiggestellt, weil der Besitzer bankrottgegangen ist.“ Und er nannte auch den Namen des Besitzers: Heinrich von Kleist. „Er hätte das Zeug gehabt, dem Meister aus Stratford-upon-Avon Konkurrenz zu bieten. Er hat’s verschissen.“

Dann erzählte er: Einst habe Martin Wieland, Großschriftsteller und Kritikersuperstar jener Zeit, den jungen Kleist eingeladen, vor ausgewählten Gästen aus seinen Werken vorzulesen. Der Dichter, noch keine fünfundzwanzig, las die ersten Szenen seines noch in Arbeit befindlichen Stücks „Robert Guiskard“. Danach Stille. Alle schauten zu Wieland. Seine Verrisse waren gefürchtet. Er erhob sich, sprach leise: „Wahrlich“, flüsterte er beinahe, „die Geister von Sophokles, Aischylos und Shakespeare haben sich vereinigt, um dies zu schreiben.“ Das habe – so unser Deutschlehrer – den Kleist so umgehauen, er habe sich nicht mehr getraut weiterzuschreiben. Das Stück ist Fragment geblieben. „Er war zu feig. Darum steht sein Haus im Rohbau neben dem von Shakespeare!“

Und Nestroy und Raimund? – Keine Regieanweisung im ganzen Werk von Nestroy hält einen Schauspieler oder eine Schauspielerin an zu weinen. In seinen Stücken herrscht Kälte, die Kälte der Sprache, die lacht. Henri Bergson, der französische Philosoph, schreibt in seinem berühmten Essay über das Lachen, alles – erwachsene – Lachen sei Auslachen, eine mehr oder weniger milde Form einer Sanktion. Wer lacht, der bestraft den, über den er lacht, für dessen Dummheit. Sprache und Geist ist gleich Messer – diese Formel beschreibt Nestroy. Der Schnoferl aus dem „Mädl aus der Vorstadt“ bekommt am Ende ein bisschen Glück, aber ohne Witz geht es nicht ab. Nestroys Sprache verletzt. Dass wir darüber lachen, beweist, dass wir Schurken sind.

Und Raimund? Nein, er ist kein Schurke! Ebenso wenig wie der Dichter des „Sommernachtstraums“. Ein Schalk, ja, ein Schurke, nein. Ich weiß nicht, ob Raimund und Nestroy einander je begegnet sind. Wahrscheinlich ja. Andererseits ist nicht bekannt, dass Raimund in einem Stück von Nestroy gespielt hätte. Nestroy umgekehrt hat. Der Zyniker verbeugt sich vor dem Träumer. Raimund ist Verzeihen ohne Gott und ohne Religion. Wir verzeihen uns gegenseitig, dass wir sind, was wir sind. In der Geisterwelt von „Alpenkönig und Menschenfeind“ kann einer durch den anderen ersetzt werden, sodass der andere sieht, wie sich der eine aufführt. Fast kommt es zu einem Duell zwischen Rappelkopf und Rappelkopf. Nicht alle Menschen sind Brüder, nein, das ist ein Irrtum – alle Menschen sind Ich.

Michael Köhlmeier

Der renommierte Schriftsteller, Jahrgang 1949, lebt und arbeitet in Hohenems und Wien.