Nordwestbahnstraße, Ende März. Zwischen uns: Zwei Tassen Kaffee. Vor uns: ein Interview und der Beginn von vielen Probetagen.

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Ob er bereit ist, kurz vor Aufnahme. „Ein bisschen nervös“, fügt Martin Finnland, der Regisseur, hinzu. Er lacht. Es ist das erste Interview, das er für dieses Stück gibt. Und die Thematik ist keine leichte.

„Auf das Einfachste heruntergebrochen geht es in den ‚Namenlosen‘ um die Verfolgung von queeren Menschen während des Nationalsozialismus“, so der Regisseur des immersiven Theaters Nesterval, das 2011 gegründet wurde. Gefeilt wurde am Stück etwa drei bis vier Jahre, eine intensive Zeit der Recherche.

Keine Zahl, nur Schande

Die Ermordung aller queeren Menschen auf eine Zahl herunterzubrechen fällt Herrn Finnland dennoch schwer. „Es gibt nicht die berühmten 6 Millionen, wie es sie beim Holocaust gegeben hat. Es gibt nicht die eine Jahreszahl, wo es angefangen hat. Wir stehen tatsächlich vor dem großen Rätsel, welche Zahlen wir mit dem Stück benennen können.“

Kalkulierte Massenvernichtung hätte es keine gegeben, viele queere Menschen wären „politisch“ verhaftet worden. Auch nach ihrem Tod redeten viele Familienmitglieder nicht offen über die Homosexualität der Verstorbenen.

„Das war natürlich ein Stigma. Es war eine Schande, die auch über den Nationalsozialismus hinaus existiert hat. Mit der Befreiung aus den Konzentrationslagern sind Homosexuelle sofort wieder ins Gefängnis gesteckt worden.“

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Realität als Inspiration

Nach österreichischem Gesetz – dem §129 – war Homosexualität bis 1971 strafbar. Selbst Jahrzehnte danach stellte sich die Republik Österreich gegen die Anerkennung der Homosexuellen als NS-Opfer: erst 1995 erhielten Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurden, mit dem Nationalfondsgesetz eine Entschädigung – von 5000 Euro. Erst 2005 nahm das Opferfürsorgegesetz Homosexuelle als Opfergruppe auf. Ein Schlag ins Gesicht für alle Betroffenen.

Der Titel des Stücks soll in erster Linie die Schicksale Einzelner darstellen und lehnt sich dabei weder an Albin Egger-Lienz Gemälde „Die Namenlosen“, noch an den Friedhof der Namenlosen an. Den Getöteten eine Stimme, einen Namen geben, aber auch den Alltag der queeren Menschen darstellen – das soll das Stück zeigen. Ein Querschnitt vieler Schicksale.

Ob es Stücke gab, die die Inszenierung inspiriert haben? Statt einer spontanen Nennung folgt Stille. Herr Finnland überlegt. „Die Verfolgungen. Schockiert hat mich die Realität,“ sagt er dann, da ist viel Schwere in seinen Worten. „Als wir die Akten von QWIEN bekommen haben, haben wir gesehen, wie die Lebenserfahrungen aus der Täterperspektive geschrieben wurden. Polizeikontrolle, Hinrichtungsprotokolle – das ist mir wahnsinnig nahegegangen. Und das alles ist nur um die 80 Jahre her.“

Nesterval Die Namenlosen
Verbotene Liebe: "Die Namenlosen" thematisiert die Verfolgung queerer Menschen im Nationalsozialismus.

Foto: Alexandra Thompson

Darüber zu sprechen sei der erste Schritt gegen das Vergessen. „Vergessen bietet einen wahnsinnigen Nährboden für das Wiederholen. Wir müssen uns erinnern und wir müssen uns dessen bewusst sein, wie schmal der Grad zwischen Anfeindungen und Gewaltanwendungen ist.“

Geschichtsträchtig, aber doch aktuell

Gewalt gegen Homosexualität wird zwar nicht systematisch vorbereitet, aber auch nicht mehr verurteilt. „In Uganda gibt es für Fälle der Homosexualität die Todesstrafe, die konservative Partei in Italien will Homosexuellen die Adoption für Kinder verbieten. Russland, Polen, Ungarn – wir sind an einem Punkt, der mir Sorgen bereitet und deshalb finde ich es auch unglaublich wichtig, dieses Stück jetzt zu machen.“ Eine Aktualität, die zu denken gibt.

„Mir wurde gesagt, das Stück ist nicht wahr, aber auf jeden Fall wahrhaftig,“ sagt Herr Finnland gegen Ende. „Ich bin wahnsinnig dankbar für die Möglichkeit, diese Geschichten zu erzählen. All die Hintergrundgedanken sind bei keinem unserer Stücke wichtiger gewesen als bei den ‚Namenlosen‘“.

Die Kaffeetassen jetzt: beide leer. Unsere Köpfe: voll. Hinter uns: ein Interview mit viel Geschichte, Gänsehaut inklusive.

„Die Namenlosen“ ist keine leichte Kost, aber Erleben lohnt sich. Um nicht zu vergessen. Ab 10. August in Hamburg.