Wenn ein Drama wie Frühlings Erwachen über Pubertät, Sexualität, starre bürgerliche Moralvorstellungen und eine Erwachsenenwelt, die Jugendliche nicht ernst nimmt, 130 Jahre nach seinem Entstehen noch immer aktuell ist … ja, was dann? Zieht man sich frustriert zurück? Erhebt man den Autor des Stücks in den Rang eines visionären Genies? Versucht man zu verstehen und beginnt dann, an der Veränderung zu arbeiten?

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Wenn man ein Theater ist, besteht da noch die Option der chinesischen Tröpfchenfolter: Man bringt das Stück immer und immer wieder auf die Bühne, passt es der Zeit an und hofft auf den Schmetterlingseffekt der Katharsis. Wir reden von „Frühlings Erwachen“ – dem Identifikationsstück für Generationen von Heranwachsenden. 

Thomas Birkmeir, Autor und Direktor des Theaters der Jugend, hat die chinesische Variante gewählt und bringt Frank Wedekinds Klassiker auf die Bühne des Renaissancetheaters in der Neubaugasse in Wien. Es ist eine Überschreibung: So nennt man es, wenn Grundgerüst und Grundthema eines Stücks bestehen bleiben, der Rest aber völlig neu adaptiert und sprachlich modernisiert wird.

Victoria Hauer im Zuschauerraum des Theater der Jugend.

Foto: Luise Reichert

Der Skandal um „zu viel Sex“

Ostern 1891 beendete Frank Wedekind das Original. Ganz nah an der Realität ist es geschrieben. Jahre zuvor hatte sich Wedekinds Mitschüler Moritz Dürr erschossen. Der Autor über sein Stück: „Der Plan entstand nach der dritten Szene und setzte sich aus persönlichen Erlebnissen oder Erlebnissen meiner Schulkameraden zusammen. Fast jede Szene entspricht einem wirklichen Vorgang.“ 

Wedekind war 26 Jahre alt, als er das Stück schrieb; er war 42 Jahre alt, als es endlich zum ersten Mal auf die Bühne kam. Regie an den Berliner Kammer­spielen führte Max Reinhardt. Es war ein Skandal mit Anlauf: Kalkuliert provozierte Wedekind den wilhelminischen Obrigkeitsstaat mit den Themen Onanie, Homosexualität, Masochismus und der Hilflosigkeit der Jugend­lichen, ihre Sexualität in halbwegs vernünftige Bahnen zu lenken. 

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Der Druck ist enorm, egal woher er kommt. Dazu sind Kinder mittlerweile Investitionsobjekte der Eltern geworden."

Thomas Birkmeir

„Ich habe den gesamten dramaturgischen Aufbau beibehalten, ebenso die meisten Figuren. Das ­Wedekind-Stück dient für mich als Schablone, um den heutigen Umgang zwischen den Generationen und mit den Problemen der ersten Liebe zu hinterfragen. Da ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Die Wohlstandsverwahrlosung ist ein Thema, das sich Alleingelassenfühlen durch anti­autoritäre Erziehung ist ebenso ein Thema. Der Leistungsdruck ist ja durch die Pandemie noch ­stärker ­ge­worden. Ich kenne das aus unserem Bereich: Kein Theater engagiert im Ensemble dazu. Wir werden im nächsten Jahr die Stücke zeigen, die wir dieses Jahr nicht zeigen konnten. Der Druck ist enorm, egal woher er kommt. Dazu sind Kinder mittlerweile Investitionsobjekte der Eltern geworden. So wie Moritz es im Stück auch verbalisiert: Haus, Hund, Küche und Sohn, alles muss ­funktionieren. Die ­Sehnsüchte der Eltern, die diese in ein Kind hineinprojizieren, sind vielleicht anti­autoritär verpackt, sie erzeugen aber denselben Druck wie eine autoritäre Erziehung.“ 

Geschichte eines Zerbrechens an der Welt

Birkmeir macht eine kurze Pause, aber nur, um Luft zu holen. „Und besonders gespannt bin ich, was aus den Kindern der Pandemie wird, denen an­­trainiert wird: Berührt euch nicht, küsst euch nicht, weil das Gegenüber ein potenzieller Virusträger, ein möglicher Killer ist. Das wird etwas bewirken. In Wedekinds Zeit war die ‚Gefahrenquelle‘ das religiöse Moment wie die Lehrmeinung, dass zu viel Onanie das Rückgrat verkrümmt; da lacht heute jeder 14-Jährige drüber. “

„Frühlings Erwachen“ ist die Geschichte von Wendla, Moritz und Melchior und deren Zerbrechen. Moritz begeht Selbstmord. Wendla, von Melchior schwanger, stirbt an einer illegalen Abtreibung. In der Uraufführung des Stücks 1906 in Berlin spielte Wedekind selbst den „Vermummten Herrn“, der Melchior zurück ins Leben bringt. 

Wedekinds Ziel: „Die Erscheinungen der Pubertät bei der heranwachsenden Jugend poetisch zu gestalten, um denselben wenn möglich bei Erziehern, Eltern und Lehrern zu einer humaneren rationelleren Beurteilung zu verhelfen“.

Mit der Uraufführung bekam Wedekind die endgültige Anerkennung als seriöser Dramatiker, und „Frühlings Erwachen“ trat seinen Erfolgszug in Deutschland an.

Der Kritiker Siegfried Jacobsohn schrieb: „Es gibt gar keine Technik, die der Darstellung jener Zeit des Vibrierens und Träumens, des Aufschreckens und Er­­zitterns, des Knospens und Aufspringens besser taugte als diese. Ein allgemeingültiges tragisches Weltbild hat seinen spezifischen dramatischen Ausdruck gefunden. Das ist die Größe von ‚Frühlings Erwachen‘.“ 

Victoria Hauer auf der Bühne des Theater der Jugend. Sie spielt die Wendla in „Frühlings Erwachen“.

Foto: Luise Reichert

Druck und falsche Realität online

Und wie ist das heute? Wie tickt unsere Jugend? Über tausend Artikel und Studien hat Birkmeir durchgearbeitet, um ein solides Verständnis für die Bedürfnisse und Ängste der Heranwachsenden zu bekommen. „Ich will für mich immer gut begründen können, warum ich etwas überschreibe. Irgendwann habe ich festgestellt, dass sich nur die Themen verlagert haben: von zu autoritär auf zu anti­autoritär. Das kann am Ende dasselbe bewirken – nämlich Orientierungslosigkeit.“ 

Klingt plausibel. Bemühen wir die Statistik, um das „Frühlings Erwachen“ 2021 zu verstehen. Die umfangreichste und aktuellste Studie zu dem Thema stammt von der deutschen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. 6.000 Jugendliche wurden befragt. Die Ergebnisse: Junge Menschen zwischen 14 und 17 haben heute später sexuelle Erfahrungen als noch vor 10 oder 15 Jahren. „Es gibt kaum einen 12-Jährigen, der noch keinen Porno heimlich im Internet ge­sehen hat. Dadurch entsteht ein Olympia des sexuellen Wettkampfs, der extremsten Stellungen. Das erzeugt Druck“, interpretiert Thomas Birkmeir.

Theater wichtiger als Matura

Ein guter Zeitpunkt, um eine Repräsentantin der Generation, um die es geht, zu Wort kommen zu lassen: Die Wienerin Victoria Hauer spielt Wendla. Die 24-Jährige ist eines der spannendsten Nachwuchstalente der Wiener Theaterszene, von Thomas Birkmeir direkt von der Schauspielschule Krauss weg engagiert. In zwei Produktionen des Theaters der Jugend war sie bislang zu sehen, dann kam der Lockdown. „Sie wird nicht lange bei uns bleiben“, sagt Entdeckter Birkmeir. Und: „Wenn sie nicht Karriere macht, dann weiß ich nicht …“

Eine wahrhaftige Bühnenpräsenz hat Hauer. Sie bezaubert. Die Zuseher*innen schauen hin, wenn sie auftritt. Man hört ihr zu, und man vergisst sie nicht. Und: Sie schafft es, selbst in absurd-komischen Rollen, wie die der Miranda in dem TdJ-Stück „Das große Shakespeare-Abenteuer“, zu brillieren.

Victoria Hauer verliert ihren Vater, als sie 12 Jahre alt ist. Beendet die Matura nicht, „weil ich wusste, dass ich ganz was anderes machen will und werde“. Und sie muss gegen das Belächeln ihrer Berufswahl ankämpfen. Ein Druck, der wehtut, aber hilfreich sein kann.

„Meine Mutter hat zu meiner Oma gesagt: ‚Wenn ich die Vicki auf der Bühne sehe, weiß ich, dass es das Richtige für sie ist. Das ist mir wichtiger, als dass sie die Matura hat.‘ Das hat mir wirklich viel bedeutet. Vor allem weil ich in einem Umfeld aufgewachsen bin, wo es das Mindeste ist, die Matura zu machen.“

Victoria Hauer wurde von Top-Fotografin Luise Reichert selbstbewusst in Szene gesetzt.

Foto: Luise Reichert

Victoria Hauer: Nach Corona langsam angehen

Ihre Wendla will das Kind von Melchior be­halten und stirbt nicht wie bei Wedekind an der ­Abtreibung, sondern an einer Fehlgeburt. „Thomas hat gesagt: ‚Ich habe keine Ahnung, wie es weitergeht, spielt, wie ihr euch fühlt.‘ Da habe ich spontan das Gespräch mit der Mutter umgedreht und gesagt: ‚Ich behalte das Kind.‘“

Hauer ist eine wache, reflektierte junge Frau. Gespräche mit ihr erweitern den Horizont. Wir reden über die permanente Verfügbarkeit von Porno­grafie und den Druck, der dadurch – mutmaßlich – entsteht.

Victoria Hauer zuckt mit den Schultern. „Bei mir ist das nicht so. Für mich ist das eine andere Welt, die ich nie mit der Realität gleichgesetzt habe. Ich habe daher auch keinen Druck verspürt. Ich denke, dass es eher ein Thema für die Burschen ist, weil sie meinen, dass es auf ihre Performance ankommt, und sie sich dadurch Stress machen.“

Und was bewegt sie? „Unser Albtraum ist Corona, das ist furchtbar. Uns werden so viele Möglichkeiten, jemanden kennenzulernen, gestrichen. Ich glaube, es wird danach ins Extreme gehen, sodass man es übertreibt. Ich hingegen werde es privat dann eher langsam angehen.“

„Victoria ist ein Riesentalent, sie wird uns nicht lange erhalten bleiben", sagt Thomas Birkmeir, Theaterdirektor.

Foto: Luise Reichert

Zur Person: Victoria Hauer

Die 24-Jährige ist in Wien aufgewachsen. Vor der Matura bricht sie die Schule ab, absolviert die Schauspielschule Krauss und wird von dort direkt ans Theater der Jugend ­engagiert. Ihr Ziel: Fernsehen, Kino, Theater. 

Frühlings Erwachen in einem Satz erklärt

Wedekind erzählt die Geschichte dreier Jugendlicher, die wegen mangelnder Aufklärung in der Suche nach ihrer Sexualität allein gelassen werden und am Druck der Schule, der Eltern und den Moralvorstellungen der Gesellschaft tragisch scheitern. 

Die drei Hauptfiguren von Frühlings Erwachen

1. Melchior

Aufgeklärt, sehr frühreif, wird von den Mädchen bewundert. Er zeigt sein Interesse an der Sexualität offen. Zudem besitzt er ein sadistisches Gewaltpotenzial und schwängert Wendla. Er ist eine Kontrastfigur zu Moritz.

2. Moritz

Spätzünder, introvertiert, wird von Melchior aufgeklärt. Große Schulangst, will nach Amerika fliehen (die Antarktis sehen – in der TdJ-Version); als der Plan scheitert, begeht er Selbstmord.

3. Wendla

Sie ist erst 14. Neugierig, mutig, emotional und empathisch. Hat masochistische Züge, wird von Melchior schwanger. Stirbt an der Abtreibung (im Original) – an ­einer Frühgeburt (TdJ-Version).

Frühlings Erwachen am Theater der Jugend

Thomas Birkmeir (Regie/Buch); mit Victoria Hauer, Phillipp Laabmayr, Curdin Caviezel, Clemens Ansorg u. v. m

Wann: alle Infos auf tdj.at

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