Ein Interview von Atha Athanasiadis & Klaus Peter Vollmann

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BÜHNE: Wie geht es Ihnen so mit Wien? Sie sind vermutlich noch immer so etwas wie ein A-Promi?

Claus Peymann: Was ist denn das, ein „A-Promi“?! Hört sich an wie ein Hustensaft – aber im Ernst, man erlebt das selbst anders: Menschen zeigen mir ihre Dankbarkeit und Freude, dass meine Arbeit, unsere Burgtheaterzeit, Spuren in den Köpfen und Herzen hinterlassen hat, künstlerisch, politisch, emotional. Dass unsere Kämpfe richtig und wichtig waren. Das zeigen sie mir – immerhin nach über 20 Jahren! – mit Zuspruch, aber auch mit verblüffendem Humor. (Den Humor der Wiener habe ich immer unterschätzt!) Neulich bin ich von einem Mann mitten auf der Kärntner Straße angesprochen worden: „Na, Herr Peymann, gehn S’ wieder a Hosn kaufn?“ Das war morgens um halb neun! Ich war gerade auf dem Weg zur Probe in den Kammerspielen. Andere sagen: „Sie fehlen uns. Sie gehen uns ab.“ – Wie mir der Meinl-Kaffee. (Grinst.) Und, was können wir sonst noch besprechen, oder was inter­essiert Sie außer dem Promi-Faktor?

Man merkt, dass Sie noch an das Theater glauben, und das ist ja schon was heute!"

Claus Peymann

Schaun ma mal, was passiert. Wir versuchen eigentlich immer eher Gespräche zu führen und keine Interviews.

Jaja. Schon gut. Ich ahne schon … Ich habe mir Ausgaben Ihres Magazins genau angeschaut. Was Sie da machen und wie Sie es machen – man merkt, dass Sie noch an das Theater glauben, und das ist ja schon was heute! Ich habe diesen Glauben nie verloren, auch wenn dieser Glaube derzeit vielleicht in Gefahr gerät. Eine unserer Schwächen in den vergangenen Monaten war, dass wir zu brav waren. Angst und Übergehorsam führen in die Agonie – und sind ein Feind der Fantasie. In Wien hat Herbert Föttinger in der ganzen Pandemiezeit als Einziger versucht, das Theater weiter lebendig zu halten. Ein Theater darf weder von der Politik noch von der „öffentlichen Meinung“ in den Stillstand verdammt werden. Ich hätte sicher ähnlich entschieden. Vielleicht war auch das ein Geheimnis meines Erfolgs in Wien, dass ich nie brav, nie Musterschüler sein wollte. Und ich hatte keine Angst. Thomas Bernhard war mein „Fremdenführer“ in Wien, sodass ich gar nicht auf den Gedanken gekommen bin, mich zu arrangieren. Ich hab meine Meinung gesagt und für unsere Kunst gefightet, für eine neue, lebendige Burg. Das brachte mir viele Feinde – und es war zugleich meine große Chance, dass ich so viele Feinde hatte. Die „Schlacht um Wien“ war eröffnet.

Der Regisseur und seine Schauspieler. Der markante Hinterkopf. Die seit Jahrzehnten gleiche Topf-Frisur, die heute Undercut heißt. Am Tisch rechts liegt das Buch zu „Der König stirbt“. Die Schauspieler:innen, wie Maria Köstlinger, lauschen der Legende.

Foto: Moritz Schell

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Wir halten Sie ja für ein Marketing-­Genie. Sie haben offenbar immer gewusst, auf welche Knöpfe man drückt …

Ach was, Quatsch! Diese Knöpfe gibt es nicht. Wo sollen die denn sein? Fragen Sie einmal Handke oder Bernhard nach solchen „Knöpfen“! Man muss Visionen haben, träumen können, an eine Sache glauben. Das ist skandalös genug! Das „Wahre, Gute, Schöne“ – leben Sie das mal! Ich brauche kein Marketing und keine Strategien. Ich habe einen außerordentlichen Instinkt und bin im Grunde dumm. Deshalb vermeide ich auch zu viele Diskussionen bei den Proben – die gewinnen ohnehin immer die Schauspieler. Ich träume auf den Proben, ich amüsiere mich auf den Proben, ich lache auf den Proben, und ich erzähle viele Geschichten. Aber ich bin kein Analy­tiker oder Theoretiker.

Ich habe einfach keine Angst. Ich bin furchtlos. Und mit Bernhard und Handke war ich bestens präpariert."

Claus Peymann

Das ist Ihr ganzes Geheimnis? Keinerlei Strategie hinter all der Aufregung?

Nein. Ich habe einfach keine Angst. Ich bin furchtlos. Und mit Bernhard und Handke war ich bestens präpariert. Dass man aufpassen muss in diesem Land. Dass jede Umarmung möglicherweise eine Gefährdung ist und der Versuch sein kann, einen zu erwürgen – auch in Liebe erwürgt zu werden endet tödlich! Dagegen bin ich immunisiert. Wenn ich etwas sehe oder erkenne, was mir verdächtig erscheint, gehe ich dagegen vor. Politisch gesehen hatte ich damals unter anderem das Glück, einen Widersacher wie Haider zu haben, der immer Gespräche mit mir führen wollte. Einmal wollte er sogar das Happel-Stadion mieten, um mit mir dort zu diskutieren. Das habe ich aber dankend abgelehnt – dass 40.000 uns dabei zuschauen, wie wir streiten? Nein danke! Das brauche ich nicht. Aber ich hatte keine Angst vor Streit. Ich finde Streiten wichtig, das kann auch eine Tugend sein. Heute verlernt man das. 

Das Erste, was uns aufgefallen ist bei den Fotos von den Leseproben, die wir von der Josefstadt bekommen haben, war, dass Sie auf wirklich jedem Foto herzhaft lachen. Was ist denn der Grund für so viel Freude?

Wenn Ionescos König stirbt, ist das ja auch komisch. Ob wir es wollen oder nicht, Sterben ist zugleich komisch und traurig: Komödie und Tragödie. Aber es kann auch sein, dass die Fotos entstanden sind, als ich gerade irgendeine heitere Geschichte erzählt habe. Ich bin jemand, der gerne Geschichten erzählt. Ich habe 60 Jahre Theater hinter mir! Da gibt es allerhand zu erzählen. Es gibt ja kaum Regisseure, die ich nicht irgendwann einmal getroffen oder engagiert habe, Schauspieler, mit denen ich nicht zusammengearbeitet habe. Die kann man gar nicht alle aufzählen: Minetti, Hoppe, Ganz, Sander … Voss, Dene … bis hin zu Ofczarek, Krisch, Maertens und ­Happel … und die ungezählten Bühnenbildner, Kostümbildner, Musiker, Tech­niker … die Theaterdirektoren! Stellen Sie sich vor, mit Achim Freyer, der die Bühne für unseren Ionesco erfunden hat, arbeite ich seit über 40 Jahren zusammen! Theatergeschichte live. Es gibt ja keine wirklich objektive Theatergeschichte, das Theater lässt sich nicht in Bücher packen. Da sind Bilder über Bilder und Anekdoten über Anekdoten! Und aus den Anekdoten, die scheinbar oberflächlich sind, lässt sich dann eine Menge Grundsätzliches ableiten. Lessing oder Stanislawski und auch Brecht haben versucht, dem Theater eine Theorie zu geben, und sind gescheitert. 

Die Weitergabe des Theaters und die Entwicklung des Theaters manifestieren sich lebendiger über verrückte Geschichten, über Pannen, über das wahnsinnige Verhalten von Regisseuren, über die Anmaßung der Genies und das banale Scheitern, Höhenflüge und Bruchlandun­gen … Wer die Genies vergisst, vergisst das eigentliche Geheimnis des Theaters. Ich meine, natürlich war Kortner ein Genie, und Reinhardt und Brecht, vielleicht sogar Einar Schleef, Andrea Breth, Peter Stein oder eventuell auch ein Claus Peymann; wir alle haben irgendwie ­etwas Manisches an uns. Genie? Das weiß man manchmal erst hinterher. In der Gegenwart bedeutet das oft Verzweiflung, Herumgebrüll, Entzücken und Fassungslosigkeit. In allem Möglichen eben. Und schon sind die Geschichten da.

Theater ist die Begegnung von Verrückten."

Claus Peymann

Ist das vielleicht auch ­manchmal eine Entschuldigung, dieser Genieverdacht?

Die einzige Entschuldigung, die es gibt, ist die Qualität. Dafür ist besondere Anstrengung, Engagement und Hingabe an die Sache gefordert. Wer die Genies abschafft, schafft die Theaterqualität ab. Theater ist keine Bank, keine Börse – das Theater ist die Begegnung von Verrückten. Mir geht die aktuelle Diskussion über das hierarchische Theatersystem auf die Nerven. Mitbestimmung haben wir in den 1960er-Jahren auch versucht und nicht geschafft. Das ist Quatsch, das geht nicht. Die Gefahr ist, dass die Freiheit der Kunst der Kleingeistigkeit der öffentlichen Meinung geopfert wird. Diejenigen Theatermacher, die jetzt zu Recht am Pranger stehen, die Intendan­ten, die sich schlecht benommen haben und die Macht missbraucht haben, sind ja sowieso Flaschen. Und schuld an mancher Kata­strophe sind die Kulturpolitiker, die sich von diesen Blendern und Pseudokünstlern hofieren lassen. Alle sind miteinander verbandelt und so lieb zueinander. Augen werden zugedrückt, wo man sie aufreißen müsste. Unabhängig, frei, streitfähig und fantasievoll – das sollte ein Künstler sein. Heute gibt es ja überall so viele „nette“ Intendanten und Intendantinnen …

Nett ist angeblich der kleine ­Bruder von Scheiße.

Ach so? Ich glaube, wer das Besondere abschafft und die Besonderen reglementieren will, der schafft Max Reinhardt und Luc Bondy ab, der schafft Peter Stein und Einar Schleef ab … Die lassen sich nicht einordnen – und das Theater auch nicht; kann ja sein, dass wir jetzt untergehen mit dem Theater, und kann ja sein, dass die etablierten und subventionierten Bühnen vielleicht jetzt endgültig gekillt werden. Das kann sein – durch uns selber und durch die Öffentlichkeit und durch die Politik. Aber dann werden wir eben neu anfangen in den Vorstädten, in den Kellern, im freien Feld. Das Theater wird nicht untergehen, das Theater ist Teil der menschlichen Realität. 

Wäre das nicht schön, wenn Theater wieder in der ­Vorstadt stattfindet und nicht in Hochkulturtempeln? Mozarts „Zauberflöte“ hatte auch Premiere in der Vorstadt …

Da müssen Sie gar nicht zu Mozart sprin­gen, Sie können schon wesentlich früher anfangen. Das Theater kannte von Beginn an die Subversion – und die Subvention! Natürlich war das Theater von Shakespeare eine Subvention der englischen Könige – oder Molière, der wurde finanziert durch den Hof von Versailles. Das heißt, die da oben haben ganz genau gewusst, es muss ein Ventil geben. Das Theater ist ein gesellschaftliches Ventil, es lässt zu, dass der Außenseiter gewinnt und über den Mächtigen gelacht wird. Natürlich haben die Leute über Richard III. gelacht, weil er auch als Idiot zu erkennen war.

Bei der Leseprobe zu „Der König stirbt" im den Kammerspielen.

Foto: Moritz Schell

Ist es nicht auch so, dass das Spiel einfach zu unserem Leben gehört?

Genau. Die Menschen könnten ohne Spiel ihr Leben gar nicht bewältigen. Ich meine, es ist ganz banal. Was haben denn unsere Vorfahren in den Höhlen gespielt? Sie hatten Kampfspiele, die haben den Bären getötet, die haben den Löwen getötet, vor dem sie Angst hatten. Sie haben gespielt und den Schrecken an die Wände gemalt. Damit war er gebannt, und sie haben ihre Angst verloren. Und die Zuschauer im elisabethanischen Theater haben den schrecklichen König, der ihre Töchter vergewaltigt und ihre Söhne tötet, lächerlich gemacht. Haben über ihn gelacht, denn der hatte auch nur eine Unterhose an. Insofern ist es mein Vertrauen, dass das Theater, das Spiel überhaupt durch nichts zu gefährden ist, auch nicht durch das Sperren aller Subventionen und das Zusperren aller Theater. Die Leute werden immer spielen.

Wo sehen Sie die Zukunft des Theaters? Wohin geht die Reise?

Keine Ahnung. Derzeit gibt es mir zu viele elektronische Spielchen, Streamings, Clips – das ist Quatsch. Das Miteinander ist der Beginn des Spielens, die Sprache ist der Beginn des Spielens. Ich habe nie Opern inszeniert, obwohl ich oft gefragt wurde. Ich habe in der Sprache die Musik gefunden. Meine Freundschaft zu den österreichischen Dichtern ist kein Zufall: Bernhard, Jelinek, Turrini, Handke. In meiner Direktion war das Burgtheater das Zentrum des österreichischen Dramas der Zeitgenossen. Danach wurden Jelinek und Co wieder im Vestibül oder im Akademietheater verräumt. 

Weil sich diese Autoren vielleicht nicht so gut verkaufen?

Unsinn! Jelinek war sechzig Mal hintereinander ausverkauft. 

Liegt es vielleicht daran, dass Sie im Gegensatz zu vielen Österreichern den Humor in den Stücken erkannt haben? Den bösen Witz?

Vielleicht. Übrigens ist Handke auch sehr heiter. Bei dem muss man sich halt nur ein bisschen mehr anstrengen, der ist nämlich auch ganz schön kompliziert – aber es lohnt sich!

Könnte man sagen: Handke hat einen Knall?

Da machen Sie es sich sehr einfach. Niemand riskiert so viel wie Handke. In seiner Bewertung des Jugoslawien­kriegs sowieso, aber überhaupt, in seinem Anspruch als Dichter und als politische Figur. Er ist sehr mutig, manchmal fast töricht-mutig. Wer glaubt, dass alles recht ist, was Handke als unrecht betrachtet, und umgekehrt, der macht es sich zu einfach. Handke ist – wie Bernhard – ein Besonderer. Dieses Besondere und der Anspruch, besonders zu sein, das ist nicht glattzubügeln, nicht wegzuradieren, das ist auch nicht zu normalisieren. Damit sollte man leben.

Sie inszenieren an der Josefstadt, über die Sie einmal gesagt haben, sie sei der gemütlichste Schlafsaal der Stadt.

Wenn ich früher in der Josefstadt war, habe ich immer gesehen, dass, sobald der Luster in den Himmel fährt, alle gemütlich zu schlafen beginnen. (Lacht.) Wir müssen ihnen halt helfen, gute, sinnvolle Träume zu träumen!

Josefstadt-Direktor Herbert Föttinger kommt als Gast bei der Leseprobe vorbei.

Foto: Moritz Schell

Mit Föttinger ist das jetzt ein ­wenig anders geworden. Der mag das Poltern auch recht gern.

Eben darum! Ich mag sein Konzept, seine Vision, finde es gut, dass er die Kammerspiele anders „öffnen“ will. Ich fühle mich hier sehr wohl. Jetzt bin ich 84, und wer weiß, ist das die letzte Inszenierung, die ich mache? Vielleicht die vorletzte oder die drittletzte – das müssen Sie sich mit 84 halt fragen: Wie oft schaffe ich das noch?

Also doch Angst?

Angst lasse ich nicht zu. Falls das meine letzte Inszenierung werden sollte, hat es natürlich einen guten Titel. „Der König stirbt“. Besser ginge es nicht vom Timing. 

Wie George Michael, der „Last Christmas“ schrieb und an einem 25. Dezember starb.

Das ist eine Lebensdramaturgie, die ge­radezu abenteuerlich ist, das grenzt an Magie. Das wollen wir nicht hoffen. Ich habe ja bereits einen Vertrag für die nächste­ und die übernächste Inszenierung.

Das ist schon eine tolle Sache, das Theater, das Schönste, was es gibt! Im Grunde haben Sie damit ein journalistisches Traumland. Machen Sie das Beste daraus."

Claus Peymann

Na ja, und wir hätten das zweifelhafte Glück, das letzte Interview mit Ihnen geführt zu haben …

(Lacht.) Ich bin mir sicher, dass überall in den Redaktionen schon Nachrufe auf mich in den Schubladen liegen. Ich hab ja zwei Optionen auf ein Grab. Eine auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin – da liegt der Brecht; und dann habe ich als Ehrenmitglied der Burg (!) auch noch Anspruch auf ein Ehrengrab der Stadt Wien.

Sie könnten es ja so verfügen, dass ein Teil von Ihnen in Berlin liegt und einer in Wien.

Lassen wir es darauf ankommen. Es ist mir dann eh wurscht. (Lacht.)

Im Stück gibt es den Satz: „Warum bin ich geboren, wenn nicht für immer?“

Das Absurde ist im Augenblick die einzige Erlebnisphilosophie, die noch Sinn ergibt. Absurder und wahnsinniger als diese Gesellschaft kann es gar nicht gehen. Ionesco ist der richtige Autor für diese Zeit. Der Tod als großes Clownsspiel, die Träne im Auge – wunderbar! Ich habe ein Ensemble von sechs tollen Protagonisten und eine große Freude an der Arbeit. Es ist ein zeitgenössisches Drama der Verzweiflung – und es darf darüber gelacht werden, es darf geweint werden. Dieses Stück hat Sarkasmus und Witz, und es begreift das Leben als Absurdität.

Aber jetzt noch mal zu Ihnen: Schreiben Sie einfach. Das ist schon eine tolle Sache, das Theater, das Schönste, was es gibt! Im Grunde haben Sie damit ein journalistisches Traumland. Machen Sie das Beste daraus.

Das tun wir. Vielen herzlichen Dank für das Gespräch.

Zu den Spielterminen von „Der König stirbt“ in den Kammerspielen des Theater in der Josefstadt!