Robert Carsen: Der Mann hinter dem neuen Jedermann
Salzburg ist in Aufruhr! Am Freitag, 19. Juli werden die Salzburger Festspiele 2024 eröffnet und das heiß diskutierte Stück jedes Festspielsommers, der »Jedermann«, erfährt am Samstag unter der Regie von Robert Carsen eine Neuinszenierung. Der Kanadier hat jedoch noch einen weiteren Trumpf im Ärmel und mutiert zum wohl meist beschäftigten Protagonisten der diesjährigen Festspiele.
Titelbild: Regisseur Robert Carsen ist im Salzburger Festspielsommer vielbeschäftigt.
Es ist eine besondere Zeit im Jahr in Salzburg: Die letzten Tage vor der Eröffnung des Festspielsommers sind stets atmosphärisch durchdrungen von einem einzigartigen, vorfreudigen Flirren an der Salzach. Internationale Opern- und Schauspielstars schlendern lässig über den Grünmarkt, die Kunstszene hat seit Wochen Einzug im barocken Städtchen gehalten und bevölkert in den Probepausen meist schwarz gekleidet und mit kosmopolitischem »Je-ne-sais-quoi« die Cafés und Bistros der Altstadt, der Domplatz wartet bestuhlt und mit Tribünen ausstaffiert auf die Jedermann-Proben. Alles sagt: Lasset die Spiele beginnen! In diesem Jahr ist die Spannung ganz besonders elektrisierend, denn das Paradestück der Salzburger Festspiele, das allegorieschwangere Mysterienspiel aus der Feder des Festspielgründervaters Hugo von Hofmannsthal wird neu inszeniert. Die mittelalterlichen Knittelverse wurden den vom Publikum langersehnten Philipp Hochmair auferlegt. Wer den Mimen bereits im Theater erlebt hat weiß: Dieses unermüdliche Kraftwerk und erfinderische Theatergestein wird sie mit Inbrunst und einem Schuss Anarchie über den Domplatz schmettern! Seit der Uraufführung des Solostücks »Jedermann Relaoded« 2013 im Rahmen der damaligen Jung-Regieschiene der Festspiele, dem »Young Director's Project«, in dem Philipp Hochmair in jede Rolle von Mammon bis Gewerke schlüpfte, gilt er als Paradekandidat für den Domplatz. Jahrelang ist der gebürtige Österreicher mit dem Einmann-Jedermann in Deutschland und Österreich auf Tournee gegangen. Die eigentliche Titelpartie am Domplatz ließ jedoch - bis auf einen fulminanten Einspringer für den erkrankten damaligen »Jedermann« Tobias Moretti im Jahr 2018 - auf sich warten. Dies ändert nun Regisseur Robert Carsen im Festspielsommer 2024. Der gebürtige Kanadier packt übrigens nicht nur den geläuterten Lebemann an, sondern führt auch Regie in Mozarts letzter Oper »La clemenza di Tito« in der akustisch prädestinierten Spielstätte für die Werke des Genius Loci, im Haus für Mozart.
Auf dem Weg zum neuen Jedermann 2024
Kurz nach Antritt des amtierenden und im Vorfeld der diesjährigen Festspiele bis 2031 wiederbestätigten Intendanten Markus Hinterhäuser wurde der »Jedermann« vom Österreicher Michael Sturminger neu inszeniert. Sieben Sommer war diese Produktion mit Modifikationen und unterschiedlichen Besetzungen im Einsatz. Tobias Moretti gab sich artig der Tradition verpflichtet, Lars Eidinger offenbarte die weichen und weiblichen Seiten des Buhlen und ließ das Stück mit den Augen des Zeitgeists völlig neu entdecken. Der Berliner begeisterte mit seiner authentischen, ihm auf den Leib geschriebenen Interpretation selbst die kritischsten Zuseher:innen. Auf Eidinger folgte, anders wie vom Publikum gewünscht, nicht Philipp Hochmair, sondern der von der Kritik für seinen Beitrag arg gescholtene Burgschauspieler Michael Maertens, der zudem den Kartenverkauf nicht gerade beflügelte. Der Ruf nach einer Neuinszenierung wurde laut, den - 2024 neu in Amt und Würden - Schauspielchefin Marina Davydova prompt aufnahm. Den Regiezuschlag erhielt Robert Carsen. Der gebürtige Kanadier ist ein in Großbritannien sozialisierter Theaterbarde, der nicht nur Regie führt, sondern meist auch das Lichtdesign und das Bühnenbild seiner Aufführungen konzipiert. Er inszenierte mit Karl Lagerfeld das filmische Porträt des Designers im Pariser Grand Palais und ist ein international vielfach ausgezeichneter Sprechtheater- und Opernregiesseur. Zudem ist er »Officier« des französischen »Ordre des Arts et des Lettres« und »Officer« des »Order of Canada«. Dem Wiener Publikum dürfte Robert Carsen mitunter von seiner Staatsopern Inszenierung aus Ioan Holender-Zeiten bekannt sein: der Puccini-Oper »Manon Lescaut«, die zuletzt im November 2023 mit Anna Netrebko in der Titelpartie auf dem Spielplan stand. Carsens Regiedebüt in Salzburg fand bereits vor 20 Jahren, im Jahr 2004, mit einem gefeierten »Rosenkavalier« im Großen Festspielhaus statt. Das Libretto der Oper stammt übrigens von Hugo von Hofmannsthal und Harry Graf Kessler. »Seit ich das erste Mal mit Hofmannsthals Werk in Berührung gekommen bin, begeistert es mich, und ich habe fünf der sechs Opern, die er mit Richard Strauss geschrieben hat, auf die Bühne gebracht«, konstatiert Robert Carsen. 2021 kehrte er mit Georg Friedrich Händels erstem Oratorium »Il trionfo del Tempo e del Disinganno« an die Salzach zurück. In diesem Jahr inszenierte Robert Carsen bereits bei den Pfingstfestspielen 2024 Mozarts letztes Opernwerk »La clemenza die Tito« als düsteren Politthriller in fifty-shades-of-grey. Im Sommer erfolgt eine Wiederaufnahme der Produktion, die den Regisseur zusätzlich in Atem halten dürfte. Allein eine Neuinszenierung des »Jedermann« zu stemmen ist mit großem Druck verbunden. Ist das Mysterienspiel doch PR-trächtiger Stimmungsmacher für den Salzburger Festspielsommer, dessen Einnahmen zudem die Sparte Schauspiel der Salzburger Festspiele zu einem guten Teil finanzieren.
»Jedermann« als Appell an die Gegenwart
Robert Carsen sieht im »Jedermann« ein Stück, das viele gesellschaftspolitische Aspekte enthält, die bis heute brisant sind. »Wie so viele seiner Zeitgenossen litt Hofmannsthal nach dem Untergang des Österreichischen Kaiserreichs unter dem Gefühl des Verlustes; aber ich denke, er sah auch die Konflikte kommen«, sagt der Regisseur. »Die Geldbesessenheit der Gesellschaft, in der er sich bewegte, war ein Thema, das ihn immer wieder beschäftigte. »Jedermann«, dem er den Untertitel »Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes« gab, schrieb er aus Sorge über den zunehmenden Materialismus und den damit einhergehenden Verfall der geistigen Werte.« Dieses Thema kennt Robert Carsen bereits aus den Opernregieen mit Libretti des Autors. »Der zweite Akt des »Rosenkavalier« (der im selben Jahr wie Jedermann uraufgeführt wurde) und die 1916 entstandene Fassung von »Ariadne auf Naxos« spielen in den Häusern der reichsten Männer Wiens – beide eindeutig Neureiche«, versichert Robert Carsen. Den Aspekt der Sterblichkeit in Hofmannsthals Text sieht der Regisseur vor allem in der westlichen Kultur als großes Mienenfeld. »Jedermann beschäftigt sich mit der Unausweichlichkeit des Todes, aber auch mit seiner Unvorhersehbarkeit. Und deshalb mündet die Auseinandersetzung mit dem Tod letztlich in ein Nachdenken darüber, wie wir unser Leben leben sollten«, sinniert Carsen. Auch seinem prominenten Vorgänger ist sich der Kanadier gewahr. Im Zuge der Vorbereitungen auf die »Jedermann«-Regie beschäftigte er sich mit dem ikonischen Erstregisseur des Stücks, Festspielmitbegründer Max Reinhardt. »Uns liegt sogar sein Regiebuch mit all seinen Anweisungen vor. Das legt die Messlatte noch höher«, erzählt Robert Carsen. Maßgeblich beeinflussen würde die Regiearbeit die Besetzung, die bereits entscheidend für die jeweilige Leseart des Textes sei. »Mein Instinkt sagt mir, dass es im »Jedermann« eher darum geht, wie man lebt, als darum, wie man stirbt. Jedermanns Motto mag Carpe diem lauten, aber wenn man ausschließlich nach diesem Motto lebt, riskiert man dann nicht, dass dies auf Kosten anderer geschieht – selbst wenn man derjenige ist, der alles bezahlt? Ich denke, in dem Stück geht es auch darum, dass wir uns alle gegenseitig unterstützen müssen, dass wir alle Teil eines größeren Ganzen sind«, appelliert der Regisseur an sein künftiges Publikum. Karten gibt es für die diesjährige Neuinszenierung derzeit übrigens keine mehr.
Mehr Infos unter: salzburgerfestspiele.at