Azulejos im Interior Design: Von Tradition bis moderner Interpretation
Azulejos werden heute weltweit verlegt. Als Werkstoff mit ästhetischer Ausdruckskraft bewegen sie sich im Spannungsfeld zwischen Restaurierung und Neuentwurf, Erzählung und Funktion. Ein Querschnitt durch Geschichte und Gegenwart.
Wer Spanien oder Portugal besucht, stößt fast zwangsläufig auf sie: kunstvoll glasierte Fliesen, sogenannte Azulejos. Sie schmücken Paläste, Kirchen und Innenhöfe, heute auch Bars, Häfen und Hotels. Kulturell fest verankert, waren sie nie verschwunden. Doch seit rund einem Jahrzehnt rücken sie wieder stärker in den gestalterischen Fokus – als Ausdruck von postmodernen Referenzen, Digitaldrucktechniken und Interesse am Handwerk. Das Spektrum reicht dabei von behutsamen Eingriffen bis zu industriell gefertigten Neuinterpretationen.
Fliesen als Collage
Das »Hotel Montalván« bei Sevilla zeigt, wie sich ein aufgelassener Töpferkomplex in ein Hotelensemble mit Restaurant verwandeln lässt, ohne die ehemaligen Spuren zu verwischen. AF6 Arquitectos recycelten dafür die farben-frohe Vergangenheit der Triana-Keramik und setzten sie als Fliesen-Patchwork neu zusammen. Das Resultat: eine zeitgemäße Ausführung in spannungsreicher Koexistenz mit historischen Elementen.
Für das »Luster Hotel« in Lissabon, entworfen vom Architekturbüro Saraiva + Associados, fiel die Wahl auf eine künstlerische Herangehensweise. In den Empfangsräumen realisierte der Street-Artist Add Fuel eine Flieseninstallation mit Dekoren aus dem Bestand, Jugendstilfarben und markanten Reliefoberflächen. Die Maß-anfertigungen entstanden in enger Zusammenarbeit mit Viúva Lamego, einer seit dem 19. Jahrhundert bestehenden Manufaktur. »Wir kooperieren regelmäßig mit führenden Kreativen wie Álvaro Siza Vieira und Rem Koolhaas, die Fliesen als Medium für ihre Entwürfe nutzen«, erklärt Catarina Cardoso, Marketingmanagerin des Traditionsunternehmens.
Fliesen als Medium
Von übergroßen Wandbildern bis zu farbintensiven Bordüren: Azulejos (arabisch »al-zulaij« für kleiner, polierter Stein) prägen seit dem 13. Jahrhundert die Stadtbilder der Iberischen Halbinsel. Zunächst maurisch-islamisch beeinflusst, entwickelten sie sich über Jahrhunderte weiter durch Handel, Kolonialzeit und Industrialisierung. Eine Vielfalt, die in Spanien unter anderem im katalanischen Modernisme mit seinen bunten Mosaikfliesen (Trencadís) und im valencianischen Art déco mit symmetrischen Mustern sichtbar wird. In Portugal dagegen sind seit dem 17. Jahrhundert vor allem blau-weiße Motive verbreitet. Von Delfter Kacheln und chinesischem Porzellan inspiriert, entstanden die sogenannten Painéis de Azulejos – großflächige Bilderzyklen mit religiösen, mythologischen Erzählungen, Seeschlachten oder höfischen Allegorien. Der bekannteste: Grande Panorama de Lisboa, 23 Meter lang.
Die Verbindung von Alt und Neu griff die spanische Designerin Patricia Urquiola in ihrer Kollektion »Azulej« für Mutina auf. »Ich wollte die traditionelle mediterrane Fliese – besonders die spanische – nicht nostalgisch zitieren, sondern mit einem aktuellen Blick neu denken.« Es gehe um Kontraste, grafische Muster, Präzision und Unregelmäßigkeit. »Im Zusammenspiel entsteht eine Fläche, die wie zufällig gewachsen wirkt«, sagt Urquiola. Produziert wird bewusst industriell mit einer Oberfläche, die fast handgemacht erscheint.
Fliesen als Struktur
Fliesen schützen vor Feuchtigkeit, reflektieren Licht, sind langlebig und pflegeleicht. Eigenschaften, die auch in der zeitgenössischen Architektur geschätzt werden. Das zeigt der Bau des Kreuzfahrtterminals Porto de Leixões, geplant von Luís Pedro Silva. Rund 900.000 hexagonale, weiß glasierte Steinzeugfliesen wurden hier schuppenartig verlegt, inspiriert von Fischhaut, reflektierend wie der Atlantik und widerstandsfähig gegen salzhaltige Luft.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgten BeAr Architects beim Museo de la Música Folk Vasca in Artea, indem sie lokale Dachtraditionen aufgriffen. Dafür kamen maßgefertigte, vertikal ausgerichtete Ziegel mit abgeschrägten Spitzen zum Einsatz, hergestellt von Cerámica Cumella. Das Ergebnis: eine Architektur, die den Genius Loci aufgreift und in die Gegenwart überträgt. Ob bewahrt, neu gebaut oder experimentell gedacht, das Erbe der Azulejos wird heute im internationalen Design- und Architekturkontext weitergeführt. Nicht als Nachahmung, sondern als eigenständige Materialästhetik.