Interview mit Galeristin Selma Feriani: »Tunesien hat zahllose kulturelle Schichten.«
Die Galeristin Selma Feriani spricht im LIVING-Talk über den Geist der Freiheit, der nach dem Arabischen Frühling die Kunstwelt Tunesiens erfasste, und den Einfluss der jahrtausendealten Geschichte auf heutige Kunstpositionen.
LiVING Welche Rolle spielt Tunis heute in der Kunstwelt?
Selma Feriani Geografisch und kulturell gesehen war Tunesien schon seit Jahrtausenden von enormer Wichtigkeit, von den Phöniziern zu den Römern und Ottomanen bis heute. Es gab bedeutende Kunsthochschulen und mit der 1947 gegründeten École de Tunis eine wichtige Bewegung. Künstler:innen wie Wassily Kandinsky kamen nach Tunesien, weil sie vom besonderen Licht hier fasziniert waren. Aber wir hatten lange Zeit auch einen sehr autoritären Staat mit riesiger Bürokratie, in dem Künstler:innen für alles um Erlaubnis fragen mussten und der öffentliche Diskurs gelähmt war. Mit dem Arabischen Frühling 2011 änderte sich das radikal.
Welchen Einfluss hatte der Arabische Frühling auf die Kunst?
Wir alle fühlten eine neue Freiheit, und die Künstler:innen begannen, sich und ihre Ideen im öffentlichen Raum zu präsentieren und zu performen. Das Festival Dream City wurde gegründet, das sich zu einer enorm wichtigen Biennale entwickelt hat. Inzwischen hat es sich von der Medina aus in die Stadt ausgebreitet.
Auch Sie eröffneten 2013, bald nach dem Arabischen Frühling, Ihre Galerie in Tunis. Was war der Anreiz dafür?
Meine Mutter ist auch Galeristin, und ich eröffnete meine Galerie direkt neben ihrer. Sie widmet sich der Moderne, ich der jüngeren Generation. Es war spannend, wieder in meine Heimatstadt zurückzukehren und sich mit Künstler:innen aus Nordafrika auseinanderzusetzen. Mit ihnen zusammen erträumte ich ein Tunis als Plattform für zeitgenössische Kunst, als Raum, in dem wir uns austauschen und entwickeln können. 2024 eröffneten wir einen zweiten Standort. Es ist ein kompletter Neubau und einer der größten professionellen Ausstellungsräume in Afrika. Von hier aus können wir Tunis noch besser zu einer kulturellen Destination machen, auch dank unserer guten internationalen Kontakte in der Kunstwelt.
Welche Künstler:innen präsentieren Sie und
welche Rolle spielen diese in der dynamischen Kunstszene von Tunis?
Vor allem Künstler:innen aus meiner Gene-ration, also jene, die in den 1980er- und 1990er-Jahren geboren wurden. Sie waren dem alten Regime und seiner Zensur gegenüber kritischer als die Generation davor. Sie thematisieren auch Aspekte wie die ökologische Verschmutzung und die Zerstörung der Küstenlandschaft. Ihre Medien und Ausdrucksformen sind vielfältig: Fotografie, Performance, Videokunst, Textilien, Keramik, Malerei.
Inwiefern wird diese junge Generation auch von der Geschichte Tunesiens inspiriert?
Historisch gesehen hat Tunesien zahllose kulturelle Schichten entwickelt, die alle noch präsent und spürbar sind und die sich gegenseitig beeinflussen und befruchten. Wir haben Wurzeln im Mittelmeerraum, auf dem afrikanischen Kontinent, in der arabischen Welt. In der zeitgenössischen Kunst von heute erkennt man all diese Schichten. Die Künstler:innen entdecken Themen und Techniken unserer Vorfahren wieder. Aber auch über die Landesgrenzen und die MENA-Region hinaus fokussiere ich mich auf den Globalen Süden und die Ähnlichkeiten seiner unterschiedlichen Regionen, von Lateinamerika über Süditalien bis Afrika.
Heute gibt es eine vitale Kunstszene in Tunis mit vielen Galerien. Wer sind die Personen dahinter?
Die meisten sind Privatinitiativen, da die Regierung nicht sehr aktiv bei der Kunstförderung ist. Das System ähnelt mehr dem amerikanischen, mit philanthropischen Sammler:innen und Mäzenen. Es gibt sehr viel Austausch und Zusammenarbeit zwischen den Galerien, zum Beispiel arbeiten wir mit der Galerie 32Bis zusammen. Das ergibt einen sehr guten Nährboden für gemeinsame Erfahrungen.

Szene-Insiderin
Selma Feriani wuchs in Tunis in einem künstlerischen Umfeld auf. Sie arbeitete zunächst in London als Asset-Managerin, bevor sie dort ihre erste Galerie eröffnete, um Künstler:innen aus Nordafrika und dem Nahen Osten zu zeigen. Kurz darauf eröffnete sie ihre zweite Galerie in ihrer Heimatstadt.
selmaferiani.com