Es ist alles eine Frage der Definition. Beispielsweise kann eine Herausforderung als „komplizierte Aufgabe, die häufig als Überforderung, unangenehme Belastung wahrgenommen wird“ verstanden werden. Oder als „Anlass zu handeln, aktiv zu werden; Aufgabe, die als lohnend, motivierend empfunden wird“.

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Die Kleinbürgerhochzeit

Fatale Vermählung

Die Braut ist schwanger, die Verwandtschaft eine Zumutung, und die selbst gebauten Möbel fallen krachend auseinander. Katharina Klar und Alexander Absenger haben in Bertolt Brechts desaströser Farce „Die Kleinbürgerhochzeit“ maliziöses Vergnügen am Irrsinn. Weiterlesen...

Letzteres ist sie wohl, wenn es darum geht, ein reiches, beinahe 50-jähriges Theaterdasein in sechs Seiten abzubilden. Eine Mission, an deren Komplexität man ohnehin nur scheitern kann, weshalb man sich besser gleich den lustvollen Aspekten widmet. Traute Hoess ist diesbezüglich ein wandelnder Fundus. Mit juveniler Frische, moussierender Neugier und aufgeräumtem Humor als Grundausstattung ist sie aus Weilheim bei München per Zoom zugeschaltet und gibt kulant Antworten auf Berufs- und Lebensfragen. Die Passion für den großen Auftritt, tut sie auf Nachfrage kund, wurde ihr keineswegs in die Wiege gelegt, auch gab es in der Familie ringsum niemanden, der ihre DNA diesbezüglich hätte beeinflussen können.

Traute Hoess in „Peter Pan“
„Peter Pan“: Martin Schneider und Traute Hoess als Herr und Frau Darling in der bejubelten Regie von Robert Wilson.

„Peter Pan“: Martin Schneider und Traute Hoess als Herr und Frau Darling in der bejubelten Regie von Robert Wilson. Foto: Imago Stock

Vielmehr begann alles im Garten der evangelischen Kirche ihres Heimatortes, in dem sie als 17-Jährige erstmalig auf der Bühne stand. In Carlo Goldonis „Mirandolina“ gab sie eine der Gräfinnen. „Damals reifte der Wunsch in mir, Schauspiel zum Beruf zu machen. Davor wollte ich lieber Tänzerin werden, was allerdings schon daran scheiterte, dass es weit und breit keine Ballettschule gab.“ Dafür sang sie im Gospelchor und hatte später, als sie im Münchner Gärtnerplatztheater „My Fair Lady“ sah, ein weiteres Erweckungserlebnis: „Ich dachte, das muss ich auch machen, hatte allerdings nicht den Mut, es meinen Eltern zu sagen.“ Also begann sie eine Lehre zum Industriekaufmann – „damals gab es tatsächlich nur die männliche Form“ – und nutzte den ihr dabei verordneten Telefondienst persönlich. „Ich rief heimlich Schauspielschulen an, um deren Aufnahmebedingungen zu erfragen.“

Schließlich trat sie, „fesch angezogen und frisiert, weil ich dachte, das gehört sich so“, an der Otto Falckenberg Schule an, „wo man etwas Klassisches, etwas Lustiges und etwas Modernes vortragen musste.“ An Erstgenanntem, Fausts Gretchen, scheiterte sie beinahe, „weil ich so nervös war und dauernd stecken blieb“. Ihren Durchbruch erlebte sie mit George Bernard Shaws „Cäsar und Cleopatra“ – als Sphinx, auf der sie aka Cleopatra zu sitzen hatte, musste eine alte Bank herhalten. „Als ich mit meinem Monolog angefangen habe, begann die Bank zu wackeln und zu knacksen. Meine Augen wurden anscheinend immer größer, ich wollte alles daransetzen, nur ja nicht wieder den Text zu vergessen, es muss wirklich sehr komisch gewesen sein.“

Sie wurde genommen, schmiss die Lehre, absolvierte das renommierte Institut und machte anschließend im Eiltempo Karriere. Wiewohl ihr erster Profi-Auftritt in der Münchner „AZ“ bösartig verrissen wurde. „Ich war damals noch in der Schauspielschule und habe in den Kammerspielen von Cornelia Froboess eine Rolle in ‚Nathan der Weise‘ übernommen. Am nächsten Tag schrieb der Kritiker Maurus Pacher: ‚Ob dieses Mädchen begabt ist, wird sich erst herausstellen, wenn sie sich von Kamtschatka bis Passau hochgedient hat.‘ Später habe ich erfahren, dass er persönlich beleidigt war, weil er wollte, dass eine andere Schauspielerin die Rolle bekommt. Obwohl es also nicht an meiner Leistung lag, hat es trotzdem lange an mir genagt.“

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Fassbinder unter Strom

Aufhalten ließ sie sich von dieser weitverbreiteten Form toxischer Männlichkeit zum Glück nicht. Gemeinsam mit Kolleg*innen der Schauspielschule gründete sie das Theaterkollektiv „Rote Rübe“, das es sich zur Aufgabe machte, dem bürgerlichen Theater eine neue Form entgegenzusetzen.

„Politisch, aber von keiner Gruppierung vereinnahmt. Anarchistisch, aber als GmbH, die Sozialabgaben geleistet hat, um nicht angreifbar zu sein.“ Konstantin Wecker und später Ton Steine Scherben verantworteten unter anderem den musikalischen Part der Avantgardetruppe. „Wir haben unsere Texte vorher im Studio aufgenommen und sie via Lautsprecher bei den Vorstellungen abgespielt. Die Schauspieler*innen haben wie in einem Stummfilm auf der Bühne agiert.“ Technisch gesehen eine Art Vorläufer der heute omnipräsenten Videoprojektionen.

Zeitweilig war die Rote Rübe das erfolgreichste freie Theaterprojekt Deutschlands, in München trat man unter anderem im Schwabinger „Crash“ auf – „der damaligen Institution für verrückte Partys“. Die bayerische Landeshauptstadt war in den 1970er-Jahren ein kreativer Moloch. „Werner Herzog, Rainer Werner Fassbinder, Werner Schroeter und Hans W. Geißendörfer haben hier gearbeitet. Diese Zeit hat mich enorm geprägt, und ich habe dabei gelernt, mit schwierigen Menschen umzugehen.“ Treffpunkt war die „Deutsche Eiche“, eine der ältesten Schwuleninstitutionen an der Isar. „Der Fassbinder war da, Peter Chatel, Barbara Valentin, Karin Baal, Elisabeth Volkmann. Ein bunter Haufen mit einer irren Energie. Nichts Menschliches war einem da fremd.“

Der Fassbinder war da, Peter Chatel, Barbara Valentin, Karin Baal, Elisabeth Volkmann. Ein bunter Haufen mit einer irren Energie. Nichts Menschliches war einem da fremd.

Traute Hoess über ihre Münchner Zeit und die „Deutsche Eiche“

Mit Rainer Werner Fassbinder drehte Traute Hoess „Berlin Alexanderplatz“ und „Lili Marleen“. Wie hat sie das Genie und zugleich Enfant terrible des Neuen Deutschen Films erlebt? „Er war hochgradig sensibel, immer unter Strom und hat alles um sich herum wahrgenommen. In seiner Wohnung liefen ständig mehrere Fernsehapparate, ich glaube, er musste sich manchmal selber abschalten, um zur Ruhe zu kommen. Er hat sich einfach seinen Raum genommen. Wenn er irgendwo hinkam, waren alle Augen auf ihn gerichtet, obwohl er rein äußerlich nicht der schönste Mann war.“

Traute Hoess in „Über allen Gipfeln ist Ruh“
„Über allen Gipfeln ist Ruh“: Für ihre Darstellung der Anne in Bernhards Komödie am Theater in der Josefstadt erhielt Traute Hoess – im Bild mit Joachim Bißmeier – 2003 den NESTROY.

„Über allen Gipfeln ist Ruh“: Für ihre Darstellung der Anne in Bernhards Komödie am Theater in der Josefstadt erhielt Traute Hoess – im Bild mit Joachim Bißmeier – 2003 den NESTROY. Foto: Theater in der Josefstadt

Als Aids über München hereinbrach, war das rauschende Fest schlagartig vorbei. Fassbinders früher Herztod im Jahr 1982 habe dann die ganze Stadt in einen Schockzustand versetzt, erzählt die involvierte Zeitzeugin. Traute Hoess bekam einen Sohn, ging in nicht chronologischer Reihenfolge ans Theater Bremen, nach Düsseldorf, Köln, Frankfurt und Bochum.

Theater, Theater, Theater

Zu den persönlichen Favoriten in ihrer umfangreichen Karriere zählen Werner Schroeters Inszenierung von August Strindbergs „Rausch“, Günter Krämers „Die Möwe“ und „Richard III.“, Walter Bockmayers Brendan-Behan-Produktionen „Die Geisel“ und „Richards Korkbein“, die Uraufführung von Heiner Müllers „Germania III“ sowie Ibsens „John Gabriel Borkman“ – beides in der Regie von Leander Haußmann –, „Eines langen Tages Reise in die Nacht“, inszeniert von Karin Henkel, und, „am meisten geliebt“, so Traute Hoess: „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“, Regie Jürgen Kruse.

Traute Hoess in „Hamlet“
„Hamlet“: Im Berliner Ensemble gab Traute Hoess in Leander Haußmanns Inszenierung des Shakespeare-Klassikers 2013 die Königin Gertrude.

„Hamlet“: Im Berliner Ensemble gab Traute Hoess in Leander Haußmanns Inszenierung des Shakespeare-Klassikers 2013 die Königin Gertrude. Foto: dpd images

Zweimal, 1994 und 2012, wurde sie an das Berliner Ensemble engagiert, eines der für sie prägendsten Häuser. Hier spielte sie in Robert Wilsons legendären Inszenierungen „Die Dreigroschenoper“, „Shakespeares Sonette“ – „mit den wunderbaren Kompositionen von Rufus Wainwright“ – und „Peter Pan“ (Musik: CocoRosie) und bereiste damit den halben Erdball. „Wir sind in Hongkong, Seoul, Singapur und New York aufgetreten. Bob Wilson macht eine Art Bildtheater, die unabhängig von der Sprache auf der ganzen Welt verstanden wird. Im BAM (Brooklyn Academy of Music, Anm. d. Red.), wo wir ständig ausverkauft waren, stand Al Pacino am Bühnenrand. Auch er ist ein Fan von Wilson.“

Wir sind in Hongkong, Seoul, Singapur und New York aufgetreten. Im BAM, wo wir ständig ausverkauft waren, stand Al Pacino am Bühnenrand.

Mrs. Peachum in Brechts „Dreigroschenoper“ verkörperte sie unglaubliche zwölf Jahre lang. Wahrscheinlich würde sie das heute noch tun, wäre Claus Peymann 2017 nicht als Intendant abgetreten und mit Oliver Reese auch ein neues Ensemble gekommen.

„Das Aufhörenmüssen hat mich sehr verletzt. Es ist zwar ein normaler Vorgang, dass ein neuer Intendant seine Leute mitbringt, aber die Art, wie man mich in Rente geschickt hat, war nicht schön. Es hieß, mit meinem Gehalt könne man drei Anfänger engagieren. Es hat sich so angefühlt, als würde man mich mit Gewalt von meiner Familie trennen, weil das Berliner Ensemble wirklich eine Heimat für mich geworden ist. Wir sind durch die vielen Reisen sehr zusammengewachsen.“

Seither ist sie frei tätig, erarbeitete bei Thomas Ostermeier an der Schaubühne Ödön von Horváths „Italienische Nacht“ und wurde 2020 von Claus Peymann für den „Deutschen Mittagstisch“ ans Theater in der Josefstadt engagiert. Nicht ihr Haus-Debüt, schon von 2001 bis 2005 avancierte sie hier zum Publikumsliebling. Erst an der Seite von Fritz Muliar, Markus Gertken und Helmuth Lohner „als irre Alte“ in Joe Ortons schwarzhumoriger Komödie „Seid nett zu Mr. Sloane“, dann als Anne in Thomas Bernhards „Über allen Gipfeln ist Ruh“, eine Rolle, für die sie 2003 mit dem Nestroy ausgezeichnet wurde.

Beides Inszenierungen von Günter Krämer. „Dass ich im ‚Mittagstisch‘ nun mit den Traunsteiner Bäuerinnen meinen Heimatdialekt so richtig zur Geltung bringen kann, freut mich besonders“, so Traute Hoess. „In Österreich fühle ich mich gut aufgehoben. Wien hat mich als Schauspielerin nach dem Berliner-Ensemble-Schock wieder aufgebaut. Was Herbert Föttinger in der Josefstadt macht: Hut ab. Zurzeit ist das mein Lieblingstheater, ich hoffe, dass ich hier bald wieder auftauchen werde.“

Wir hoffen auch. Vorher freuen wir uns aber noch auf jene TV-Serie, die Traute Hoess nächstes Jahr drehen wird, über die sie aber – erraten! – „noch nicht sprechen darf“.

Zur Person: Traute Hoess

Schauspielausbildung an der Otto Falckenberg Schule in München, Mitbegründerin des erfolgreichen Theaterkollektivs „Rote Rübe“. Engagements am Theater Bremen, dem Schauspielhaus Bochum, dem Berliner Ensemble, dem Schauspiel Frankfurt und am Theater in der Josefstadt. Sie arbeitete mit Regisseuren wie Robert Wilson, René Pollesch, Günter Krämer, Karin Henkel oder Claus Peymann und drehte Filme, u. a. mit Rainer Werner Fassbinder, Andreas Dresen und Leander Haußmann.

Zu den Spielterminen „Der deutsche Mittagstisch“ im Theater in der Josefstadt!