Irgendwie liegt es in der Natur der Sache, mit dem Präfix „post-“ ausgestattete Dinge sofort als irgendwie ausgefranst und komplex einzustufen. Selbiges gilt auch für den Begriff der „Postdramatik“, der spätestens seit Hans-Thies Lehmanns 1999 veröffentlichter Studie „Postdramatisches Theater“ durch die Theaterwelt geistert.

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Erstmals aufgetaucht ist der Begriff jedoch schon Mitte der 80er Jahre, als der Theaterwissenschaftler Andrzej Wirth das Adjektiv postdramatisch zur Charakterisierung aktueller Theaterformen verwendete. Er konstatierte, dass „das Sprechtheater seine Monopolstellung verloren hat zugunsten der post-dramatischen Formen der Sound-Collage, der Sprechoper und des Tanztheaters.“

Ablösung des Theaters vom Text

Lehmann, dessen Studie heute als Standardwerk gilt, beschreibt damit eine Theaterform, die sich vom Text als Basis und Ziel einer Inszenierung abgelöst hat. Der literarische Text ist nicht mehr der zentrale Gegenstand der Aufführung, er ist ein Bestandteil von vielen, nunmehr gleichberechtigten theatralen Mitteln. Als Grundlage dieser Entwicklungen wird unter anderem die im 20 Jahrhundert aufkommende Sprachskepsis gesehen, aus der heraus ein tiefgreifendes Misstrauen gegenüber der Möglichkeiten der Mimesis entstand – die Frage, ob sich menschliches Handeln und die reale Welt überhaupt abbilden lassen. Damit geht auch einher, dass sich die Schauspieler*innen nicht mehr in die Psychologie der Figur einfühlen, sondern sich eher Richtung Performance bewegen. Polyphones, stark rhythmisiertes Sprechen ist als theatrales Mittel sehr beliebt, der Theaterchor feiert eine Renaissance.

Koexistenz statt Ablösung

Wichtig ist auch, dass sowohl ein Text als auch eine Inszenierungsweise postdramatisch sein kann. Zu den bekanntesten postdramatischen Texten gehören Elfriede Jelineks Textflächen, aber auch die Stücke Peter Handkes und Heiner Müllers oder jene von Thomas Köck.

Sarah Viktoria Frick, dahinter das Ensemble von „antigone. ein requiem“ von Thomas Köck: Mavie Hörbiger, Branko Samarovski, Dorothee Hartinger, Mehmet Ateşçi, Deleila Piasko, Markus Scheumann

Foto: Burgtheater/Matthias Horn

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Lehmann spricht in seiner Studie auch an, dass es eine falsche Schlussfolgerung wäre, das dramatische Theater aufgrund der Existenz postdramatischer Formen als überholt zu betrachten. Vielmehr geht es um die Beschreibung einer „Schwerpunktverlagerung“ und um „Koexistenz statt Ablösung“.

Insgesamt ist heute an vielen Theatern wieder eine Hinwendung zum Drama – zu Psychologie, Text und Handlungsbögen zu beobachten. Was jedoch keinesfalls bedeutet, dass postdramatische Formen von der Theaterbühne verschwunden sind. Das Schöne am Theater ist ja auch, dass unterschiedliche Formen nebeneinander existieren können.

2019 sprach sich auch Schaubühnen-Leiter Thomas Ostermeier in einem Interview für ein narratives Schauspiel aus. „Durch ein Theater, das Figuren ernst nimmt und rele­vante Geschichten erzählt, kann man vielleicht Menschen, für die Theater immer ein unbedeutendes­ Experiment von privilegierten Intellektuellen war, wieder für ein komplexeres Nachdenken über die Welt begeistern“, so Ostermeier.