Manche kriegen nie Standing Ovations. Andere müssen siebzig Jahre darauf warten. „Letztendlich hat sich das Warten ausgezahlt – andererseits hätte ich eh nichts anderes machen können als warten.“ Alexander Raskatov lacht laut los, und seine Frau, die Sopranistin Elena Vassilieva, sekundiert trocken: „Wenn du jünger gewesen wärest, wäre dir der Jubel vielleicht zu Kopf gestiegen.“

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Das Ehepaar lacht im Duett. Vom Mahler-Saal in der Staatsoper machen wir einen Schwenk nach Amsterdam im März 2023: Weltpremiere der Oper „Animal Farm“ im Opernhaus an der Amstel.

Die Premiere und die Kritiken

Es ist kurz nach 22.30 Uhr. Der letzte Ton ist gespielt, und das gesamte Premierenpublikum gibt minutenlang Standing Ovations. Elena Vassilieva, eine der Sängerinnen, verbeugt sich. Als ihr Mann, der Komponist des Werkes, auf die Bühne geholt wird, ist das Publikum kaum mehr zu halten: Mehr Jubel geht nicht.

Alexander Raskatov hat George Orwells Weltbestseller in ein musikalisches Meisterwerk verwandelt. Der Inhalt: Tiere auf einem Bauerhof vertreiben ihren brutalen Besitzer. Doch die Revolution frisst ihre eigenen Kinder. Die Schweine übernehmen die Macht und errichten ein Terrorregime.

Bei der Premierenfeier treffen wir Regisseur Damiano Michieletto. Warum wurde erst jetzt aus dem Stoff eine Oper gemacht? „Keine Ahnung. Singende Tiere sind doch eine Steilvorlage.“ Stimmt.

Am nächsten Tag wird der Triumph des Abends in den Schlagzeilen prolongiert: „Meisterhaft und knallhart“ („Handelsblad“), „Raskatovs Werk fesselt von Anfang an“ („de Volkskrant“), „Virtuos und schwungvoll“ („Die Welt“), „Die beste und wichtigste Oper des 21. Jahrhunderts“ („Opernwelt“).

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So. Zurück in den Mahler-Saal der Wiener Staatsoper. Alexander Raskatov und seine Frau sind in Vorbereitung der Premiere in Wien. Wir sind (inklusive Fotografin) zu viert, und das ist recht wenig für den großen Raum. „Wenn uns der Saal schon allein gehört, dann lass uns doch einfach in der Mitte Platz nehmen, da ist der beste Sound.“

Alexander Raskatov lächelt breit.

Alexander Raskatov Elena Vassilieva
Zwei mit sehr viel Witz und Humor. Alexander Raskatov und seine Frau, die Sopranistin Elena Vassilieva, beim BÜHNE-Interview, das wir bereits 2023 bei einem Besuch Raskatovs in Wien geführt haben.

Foto: Victoria Nazarova

Timing und Witz

Er meint den Hall im Raum. Raskatov hat Witz, Charme, eine unglaubliche Selbstironie und ein sehr exaktes Timing für Witze.

Da wäre mal die Geschichte seiner Geburt: „Ich bin am 9. März 1953 in Moskau geboren, Millionen lebten damals dort, und hunderte starben im Gedränge“, erzählt er, dann macht er eine Pause und setzt nach: „Die Wahrheit: Es war wegen Stalins Begräbnis, und ganz Russland war auf den Beinen. Meine Frau behauptet, das hätte etwas mit mir gemacht …“

Pointensetzen ist Übungssache: Jahrelang schrieb Raskatov Musik für Zeichentrickfilme und lernte, „dass da jede Sekunde genau kalkuliert sein muss“. Anfang der 1990er-Jahre kehrte Alexander Raskatov der Sowjetunion den Rücken: „Es war chaotisch, unsicher, ein zerfallendes Land.“

Über Frankfurt und Heidelberg zieht der Komponist nach Frankreich. „Würde ich nochmals auf die Welt kommen, dann würde ich in Amsterdam oder Wien leben wollen“, sagt er.

„Für mich ist das Wichtigste in einer Oper die Stimme.“

Alexander Raskatov, Komponist

Vom Entstehen einer Oper

„Animal Farm“ ist Raskatovs erste Oper in englischer Sprache – seine vierte überhaupt. „Während meines Lebens in der Sowjetunion hatte ich nie die Gelegenheit, ,Farm der Tiere‘ zu lesen, und zwar aus einem einfachen Grund: Es war streng verboten. Als ich es jetzt gelesen habe, dachte ich: Da geht es ja um mich! Mein Großvater musste in den Gulag, hat ihn überlebt, und wir kannten alle seine Geschichten. Ich habe mir dann die Freiheit genommen, Situationen zu schaffen, die es im Buch nicht gibt. Ich habe auch einige echte Zitate von Stalin, Trotzki, Beria und Bucharin verwendet. Es gibt in der russischen Oper des 20. Jahrhunderts eine Tradition der politischen Satire – Rimski-Korsakow, Schostakowitsch –, ich bin also nicht der Erste. Vielleicht liegt es auch daran, dass mein Vater, der lange als Chirurg gearbeitet hatte, später Satiriker wurde. Man kann also durchaus behaupten, er hat den satirischen Grundstein für ,Animal Farm‘ gelegt.“

Animal Farm
Bühne und Kostüme. Das Bühnenbild schuf Regisseur Damiano Michieletto, die Kostüme Klaus Bruns. Alle Bilder hier stammen aus der Premierenproduktion in Amsterdam.

Foto: Ruth Walz / Dutch National Opera

So klingt die Oper

Wer bei Ligetis „Le Grand Macabre“ vom Witz und der unglaublichen Melodik hingerissen war, den wird „Animal Farm“ in Begeisterung versetzen: Raskatov schafft es, Pferdewiehern zu genialen Koloraturen zu verarbeiten, Ziegen im Sopran meckern und Schweine im Bass grunzen zu lassen. Klingt atonal und nach Kakophonie am Rebellen-Bauernhof – ist es aber nicht.

Es gibt fünfzehn Haupt-, keine Nebenrollen. Raskatov hat allen „Tieren“ einen der Gattung entsprechenden Sound auf das Fell geschrieben.

Wie schon gesagt: Es quiekt, es bellt, es wiehert. Soli finden kaum statt – Raskatov hat stattdessen ein beeindruckendes Ensemblestück geschaffen.

„Singende Tiere sind eine Steilvorlage.“

Regisseur Damiano Michieletto über „Animal Farm“

Strunzdumm, aber schön

Stute Mollie etwa ist eine strunzdumme, Koloraturen singende Königin der Ställe. Die Jungpioniere – eine hysterisch gackernde Hühnerschar – werden vom Jugendchor gesungen. Die Tempi sind schnell. Die musikalischen Karikaturen ergänzen perfekt das Szenische.

„Für mich ist in der Oper das Wichtigste die Stimme. Ich musste für jeden einzelnen Charakter eine einzigartige, klar erkennbare Stimme finden, die dann im Gesamten nicht untergeht und klar erkennbar ist – daher habe ich auch die Vokalstimmen zuerst geschrieben. Ich verwende viele skalpellartige Phrasen, die zwischen den Ensemblestellen einhaken.“

Ein Teil der Weltpremieren-Besetzung aus Amsterdam kommt mit nach Wien – auch Elena Vassilieva, die den Raben Blacky spielt und singt. Sie trifft hier auf beliebte Routiniers, wie Wolfgang Bankl und Clemens Unterreiner.

So ist die Inszenierung

Regisseur Damiano Michieletto: „Die Geschichte wird in neun Szenen und einem Epilog erzählt. So wie wir es inszeniert haben, sind zu Beginn der Geschichte alle Tiere in Legebatterien eingesperrt. Die Farm ist eine Art Schlachthof – die Tiere sind nur wegen ihres Fleisches dort. Farmer Jones, der Besitzer der Farm, ist oft von Schlachtern umgeben. Der Traum von Old Major, der zu Beginn gezeigt wird, ist ein Traum von Freiheit, von Befreiung aus der Gefangenschaft. Die Rebellion der Tiere bricht die Käfige von innen auf.“

Sieben Gebote bilden ihre Gesetzgebung, die garantieren soll, dass alle Tiere von nun an friedlich zusammenleben und sich abwenden von allem Menschlichen. Die Arbeitseinteilung offenbart jedoch bald, dass die Schweine sich selbst die Hauptrolle zuweisen und sich über die Gesetze stellen.

Michieletto: „Es ist eine klassische Geschichte über Rebellion und Revolution, über den Aufbau einer neuen Gesellschaft, über Macht und Diktatur. Sie ist sehr dramatisch und theatralisch.“

Der gebürtige Venezianer war es auch, der die Idee zu der Oper hatte und damit zur Niederländischen Nationaloper ging, die wiederum Raskatov als Komponist ins Spiel brachte.

Animal Farm
Blacky, der Rabe mit der Spritze. Elena Vassilieva in der Rolle als Blacky ein Teil des Ensembles – wieder mit dabei.

Foto: Ruth Walz / Dutch National Opera

Neues fürs Repertoire

„In der Opernwelt wird viel über Regisseure und Sänger gesprochen. Aber kaum über lebende Komponisten. Es gibt sie, aber ihre Werke werden selten ins Repertoire aufgenommen. Mit diesem Projekt hoffe ich sehr, dass wir eine Oper geschaffen haben, die Bestand hat und auch in der Zukunft aufgeführt wird.“

Das Staatsopernorchester wird übrigens noch mit sechs Schlagzeugern, zwei Harfen, Saxophonen, elektrischen Gitarren und einem Zymbal verstärkt. Der Sound wird also noch gewaltiger als gewohnt. Nach Wien wird „Animal Farm“ in den Opernhäusern von Palermo und Helsinki zu sehen sein und bei uns Teil des Repertoires – so wie es sich Regisseur Michieletto gewünscht hat.

PS: In Amsterdam war das Stück nach der Premiere restlos ausverkauft.

Zu den Spielterminen von „Animal Farm“ in der Wiener Staatsoper!