„Hallo, ich bin der Stefan.“ Weißes T-Shirt. Leinensakko. Offenes, breites Grinsen. Sonnenbrille. Treffpunkt MuseumsQuartier. Hier wird das Theater an der Wien während des Umbaus des Stammhauses spielen. Das Programm, das Herheim im April vorgestellt hat, ist bunt und spannend. Er ist ein charismatischer, kluger Gesprächspartner, der zu begeistern weiß. Man wünscht sich und der Stadt, dass er diese Gabe nicht verlieren möge.

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Neues Publikum braucht die Oper, und Stefan Herheim ist angetreten, dieses für sein Haus zu begeistern. Wie will er das und noch viele andere Dinge hinbekommen? Ein Interview mit einem, der selbst in der „Das haben wir immer so gemacht“-Mentalität des Wieners noch etwas Positives zu finden vermag.

Ihre Mutter ist Deutsche, Ihr Vater Norweger. Die Norweger gelten als Schweizer des Nordens, die Deutschen als wenig humorvoll, dafür akkurat. Sie sind jetzt klischeehaft betrachtet ziemlich vorbelastet. Wie lustig sind Sie?

Lustig bin ich nie (grinst), nur mit einer gehörigen Portion norwegischer Selbstironie ausgestattet. Norweger unter sich dürfen sich nicht zu ernst nehmen. Das ist sympathisch, hat aber auch Nachteile.

Welche?

Norwegen ist ein weites Land mit wenigen Einwohnern, und die blicken nicht allzu weit über den eigenen Tellerrand hinaus. Dadurch ist die Kultur etwas stromlinienförmig. Und Prophet wird dort nur, wer ausgewandert oder tot ist.

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Sie sind ausgewandert.

Na ja, ich bin zum Studieren nach Deutschland, wo die Oper eine viel längere Tradition hat und stärker in der Gesellschaft verankert ist. Norweger sind sehr umgänglich, aber sobald eine Sache etwas komplizierter wird – was die Oper so an sich hat –, werden sie schnell misstrauisch oder sind gelangweilt. Da sitzt man als akribischer Opernliebhaber dann schnell wie ein Paradiesvogel im Käfig, weswegen ich in Deutschland geblieben bin. Doch ich arbeite regelmäßig auch in meiner Heimat, wo ich meine Familie und seit einigen Jahren auch eine Professur an der Osloer Kunsthochschule habe.

Was ist für Sie das Geheimnis der Oper?

Sie verlautbart Unerhörtes und zeigt auf schönste Weise, wie unzulänglich der Mensch als Krönung der Schöpfung ist. Gleichzeitig ist Oper eine Werkstatt, die so vielfältig aufgestellt ist wie die Gesellschaft selbst. Nur ziehen hier meist alle am selben Strang, was für mich an gelebte Utopie grenzt.

Ich weiß genau, was ich von mir selbst, vom Haus und von Wien erwarte.

Stefan Herheim

Wie wird man eigentlich Direktor des Theaters an der Wien?

Ich wurde freundlich aufgefordert, mich zu bewerben. An einem einzigen Tag bekam ich drei unterschiedliche Telefonanrufe. Ich dachte, jemand spielt „Versteckte Kamera“ mit mir, denn erst war die Wiener Volksoper dran, dann die Wiener Staatsoper und schließlich das Wiener Rathaus: „Hätten Sie Interesse, das Theater an der Wien zu leiten?“ Als ich wenige Tage später Bogdan Roščić auf einen Kaffee in Berlin traf, um über mögliche Inszenierungen an der Staatsoper zu reden, musste ich ihm mitteilen, dass wir in Wien vielleicht Nachbarn werden.

Er neu, Sie neu, Lotte de Beer neu. Es ist ein bisschen wie eine Boyband mit Sängerin. Die Stadt stellt sich musikalisch neu auf.

Ja, und dabei richtet ganz Europa die Augen auf Wien. Wir leiten aber jeweils drei sehr unterschiedliche Bands, die sich auch programmatisch ergänzen sollten. Umso besser, dass auch zwischen uns ein guter Ton herrscht.

Oper als gelebte Utopie: Stefan Herheim präsentiert sein Programm
MuseumsQuartier ist Theater an der Wien. Stefan Herheim auf der historischen Fassade der Winterreithalle. Rechts von ihm ist der Eingang zur zukünftigen Spielstätte des Theaters an der Wien.

Foto: Lukas Gansterer

Bedeutet: Sie drei reden auch miteinander – was schlau ist, denn es gibt ja keinerlei kulturpolitischen Auftrag, der Ihnen sagt, wie Sie sich abgrenzen sollen. Richtig?

Sicher sind die Staatsoper und die Volksoper unterschiedlich beauftragt vom Bund. Aber es stimmt, dass wir am Theater an der Wien von der Stadt nichts vorgeschrieben bekommen, was die Programmierung betrifft. Und das ist auch gut so. Natürlich kann man sich fragen, warum drei Opernhäuser einer Stadt fast zeitgleich mit neuen Direktor*innen besetzt werden, die auch bei der Frage, was Musiktheater zu leisten hat, nicht sehr weit auseinanderliegen. Lotte, Bogdan und ich sind uns dessen aber sehr bewusst. Wir tauschen uns aus, kennen das Kerngeschäft des anderen, ziehen jeweils klare Profillinien und stellen die Weichen neu, ohne die Traditionen und besonderen Merkmale unserer Häuser zu strapazieren.

Wie haben Sie sich auf Ihren Job vorbereitet? Was wird erwartet?

Da die Erwartungen auseinandergehen, ist es schwierig, sie auf einen Nenner zu bringen. Ich weiß aber genau, was ich von mir selbst, vom Haus und von Wien erwarte.

Und das wäre?

Die Lust und das Vermögen, sich in Beziehung zu setzen. Als Roland Geyer das Theater an der Wien vor sechzehn Jahren quasi neu erfand, war der Stagionebetrieb ein absolutes Novum in Wien. Jetzt, wo das Haus längst etabliert ist und sich auch international bestens bewährt hat, tut ein Wechsel gut. Um frisch ans Werk zu gehen, komme ich nicht nur als neuer künstlerischer Leiter, sondern werde auch als Regisseur neue künstlerische Akzente setzen.

„Das kennen wir nicht, also geht das nicht.“ Haben Sie diesen Satz schon einmal gehört?

(Lacht.) Sicher, aber das feuert mich eher an, denn dann kann es nur mehr vorwärtsgehen. Berührungsängste abzubauen gehört dazu und ist ein wunderbarer Teil meines Jobs.

Sie starten im MuseumsQuartier. Eigentlich ein Vorteil, um neues Publikum zu finden.

Dieses Ausweichquartier ist für mich gar kein Kompromiss, sondern eine tolle Chance, das Theater an der Wien während seiner Sanierung an einem Ort neu aufzustellen, den ich supersexy finde. Unmittelbar von wunderbaren Museen, anderen Bühnen und dem brummenden Stadtleben umgeben, lassen sich hier Synergien freisetzen, die für ein lebendiges Musiktheater maßgeblich sind.

Das bedeutet, Sie werden das MQ und die Stadt bespielen?

Trotz Corona habe ich es geschafft, bei fast allen Nachbarn anzuklopfen, mit denen wir gemeinsam hier künstlerisch Liebe machen möchten. Bei ihnen und zusammen mit ihnen laden wir zu alternativen Ereignissen ein und setzen auch in der Kammeroper auf ein Musiktheater jenseits des Herkömmlichen. In Kooperation mit Hochschulen und Talenteschmieden entstehen hier neue Konstellationen aus Studierenden, Jugendlichen und Kindern, die an unseren Produktionen teilhaben. Nicht separat und akademisch, sondern immer aufgemischt und spielerisch.

Und doch ist die Saison 2022/23, die Sie im April präsentiert haben, durchaus anspruchsvoll. Viele Menschen haben Berührungsängste bei Komponisten wie Janáček, Berg oder Weinberg. Wie wollen Sie diese Hürden überwinden?

Ich glaube, es gibt kaum eine bessere Programmstrategie als die, mit vereinten Kräften starke Geschichten überzeugend zu erzählen. Der größte Vorteil des Stagionesystems ist, dass der ganze Betrieb sich auf das konzentrieren kann, was am Ende die Herzen höher schlagen lässt. Und es ist viel schöner, mit weniger bekannten Stücken Publikumserfolge zu landen als mit populären Titeln, die sich eh immer gut verkaufen. Als Zuschauer gehe ich in die Oper, um verwandelt zu werden. Auch als Künstler nähere ich mich neuen Werken nicht, um mich selbst bestätigt zu sehen, sondern um meinen eigenen Horizont zu erweitern. Wenn sie etwas Außergewöhnliches erlebt haben, sagen die Engländer: „It was mindblowing!“ Ohne diesen Anspruch gelingt gute Unterhaltung nicht.

Unterhaltung? Reicht das?

Wenn sie Haltung zeigt und Halt gibt, ja! Der Schlüssel zum Theatererlebnis liegt in der Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, auch wenn diese völlig anders ticken. Auch das ist Freiheit, und zwar eine große, auf welcher unsere Zivilisation fußt. Empathie ist eine Vorstellungsgabe, die Menschen vereint. Für mich ist der Glaube an dieses „wir“ heilig, und die Musiktheaterbühne ist für mich der Hochaltar dieses Glaubens. In allen Stücken in unserer ersten Saison geht es um ein Über-sich-Hinauswachsen, wofür wir auch das Programm sehr weit aufgefächert haben. Wir reisen durch vier Jahrhunderte Musiktheater und werden auch bei der Operette haltmachen ...

... die es lange an diesem einstigen Operettenhaus nicht mehr gab ...

...etwa mit Offenbachs „La Périchole“, einem der feinsten Werke dieses Meisters der Opéra bouffe. Nikolaus Habjan wird es für Wien neu in Szene setzen.

Auch für Kinder und Jugendliche etablieren Sie neue Formate.

Ja, zu Weihnachten wird es bei uns immer eine Familienoper geben, die wir keineswegs auf Sparflamme, sondern mit allen Ingredienzen der großen Oper zubereiten werden. Es reicht nicht, hin und wieder in die Bezirke zu gehen, um dort Kindern und Jugendlichen zu erzählen, wie toll Oper wäre, käme man nur rein. Was ich selbst als Kind erleben durfte und was mein Leben verändert hat, will ich anderen zugänglich machen. Dafür öffnen wir unsere Tore weit und machen große Oper mit einem Einakter, dessen Länge niemanden überfordert.

Der musikalische Tausendsassa Händel steht bei Ihnen auch am Programm, warum?

Warum in aller Welt nicht, wo seine Werke weltbewegende Fragen aufwerfen? Gerade seine großen Oratorien haben eine musiktheatrale Kraft, die wir zusammen mit spezialisierten künstlerischen Fachkräften freisetzen wollen.

Endlich inszeniert Tobias Kratzer in Wien.

Ja, zum ersten, aber nicht zum letzten Mal! Er startet bei uns mit Rossinis „La gazza ladra“, einem Meisterwerk des Belcanto, einer weiteren unserer sechs Programmsäulen. Diese bringen zusammen mit unseren festen Orchesterpartnern, dem Arnold Schoenberg Chor und wiederkehrenden Regieteams eine Kontinuität, die dem Theater an der Wien ein klares Profil verleiht. Wir erstellen nämlich unsere Spielpläne in enger Absprache mit unseren Künstler*innen, deren unterschiedlichste Herangehensweisen ein unverkennbares Handwerk und eine große Liebe zum Musiktheater verbindet.

Zum neuen Programm des Theater an der Wien!