Ich bin ein alter weißer Mann. Wer mir das vorwirft, übersieht dabei, dass ich daran nichts ändern kann, auch mit dem besten Willen, auch mit der ehrlichsten Selbstverleugnung nicht. Wäre ich ein Schauspieler, dürfte ich den Shylock in Shakespeares

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„Der Kaufmann von Venedig“ spielen? Nein? Warum nicht? Weil ich zwar alt, aber kein alter Jude bin? Hätte ich vor dreißig Jahren den Othello spielen dürfen? Natürlich nicht, ich war ja auch vor dreißig Jahren kein Mann mit schwarzer Hautfarbe.

Warum Shakespeare einen alten Juden in dem erstgenannten Stück auftreten lässt, ist klar: Antonio, ein Kaufmann, möchte, um seinem Freund aus einer misslichen Lage zu helfen, Geld ausleihen. Also geht er zum Geldverleiher, und Geld für Zinsen verliehen haben damals nur die Juden. Die Christen durften das nicht. Den Juden dagegen waren fast alle übrigen Berufe verwehrt. Das ist bekannt. Shylock wird von den Bürgern Venedigs, alle christlich, verachtet; er wiederum hasst die Christen, wie die Christen ihn und seinesgleichen hassen.

Zur Person: Michael Köhlmeier

Der renommierte ­Schriftsteller mit ­Wohnsitzen in Hohenems und Wien veröffentlichte ­Ende August im Hanser Verlag den Katzenroman  Matou

Ist das Stück antisemitisch? Viele sind dieser Meinung. Warum? Weil Shylock rachsüchtig ist? Weil er grausam ist? Unter allen Menschen gibt es rachsüchtige und grausame, nur unter Juden soll es keine geben? Das ist nichts anderes als paradoxer Rassismus. Aber angenommen, „Der Kaufmann von Venedig“ wäre tatsächlich ein antisemitisches Stück, sollte es, dürfte es dann – Shakespeare hin oder her – heute noch aufgeführt werden?

Bei „Othello“ ist die Sache noch verwirrender. Der Mann – warum ist er eigentlich schwarz? Was hat sich Shakespeare dabei gedacht? Spielt die Hautfarbe in dem Stück überhaupt eine Rolle? Wird Othello diskriminiert wegen seiner Hautfarbe? Doch wohl nicht. Hätte ihn der Doge sonst zum General, also zum obersten Kriegsherrn der Stadt, ernannt? Über seine Herkunft wird gemunkelt – dass er Desdemona mit fremdartigen Geschichten umgarnt habe, um sie für sich zu gewinnen. Hätte Shakespeare aus dem General einen blonden Schweden oder einen Kaukasier gemacht, er hätte nicht einen Satz ändern müssen. Die Hautfarbe Othellos spielt tatsächlich keine Rolle. Ich glaube, in der bunten Truppe des Theatermannes befand sich zu dieser Zeit ein Schwarzer, und dem hat er eine Rolle auf den Leib geschrieben – weil ein Schwarzer auf der Bühne damals eine Sensation war, und Sensationen konnte der Theaterdirektor William Shakespeare brauchen, denn staatliche Subventionen gab es nicht. Kann sein, oder kann nicht sein ...

Ich bin ein alter weißer Mann

Niemals hätte ich das Gedicht „The Hill We Climb“ von Amanda Gorman ins Deutsche übersetzen dürfen, das die junge schwarze Dichterin anlässlich der Amtseinführung von Joe Biden geschrieben und dann auch vorgetragen hat. Ins Deutsche übersetzt wurde es schließlich von drei Frauen: einer Sachbuchautorin, einer Journalistin und Moderatorin und einer Schriftstellerin, die zwar auch als Übersetzerin tätig ist, allerdings nicht als Übersetzerin von Lyrik.

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Die Übertragung ist gescheitert. Leider. Dabei, glaube ich, sie ist nicht deshalb gescheitert, weil die drei Autorinnen sich über die Maßen bemüh- ten, im weiten Sinn politisch korrekt zu handeln, sondern weil sie eben keine Poetinnen sind. Lyrik zu übersetzen heißt: nachdichten. Das Gedicht wurde auch Victor Obiols zur Übertragung ins Katalanische angeboten. Obiols hat zahlreiche Werke von Shakespeare und Oscar Wilde in seine Muttersprache übersetzt und dafür höchstes Lob erhalten. „Ich war begeistert, als ich Amanda Gorman bei der Vereidigung gesehen habe“, erzählte er in einem Interview. „Eine junge schwarze Frau, nach all dem Trumpismus. Fantastisch!“ Und er war begeistert, dass die Wahl auf ihn gefallen war. Dann aber wurde ihm der Auftrag entzogen, die fertige Übersetzung wurde abgelehnt – aber nicht aus ästhetischen Gründen. Amanda Gormans amerikanischer Verlag argumentierte, man wolle dochlieber eine Frau als Übersetzerin, möglichst eine Aktivistin. Ein weißer alter Mann könne sich in das Werk einer jungen schwarzen Frau nicht hineinversetzen. Victor Obiols dagegen: Dann hätte er auch nicht Shakespeare übersetzen dürfen,„weil ich kein Engländer aus dem 16. Jahrhundert bin“.

Ich bin ein alter weißer Mann

– darf ich hoffen, ungeschoren davonzukommen, wenn ich Mark Twains Roman „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ gegen den Vorwurf des Rassismus verteidige, obwohl eine der Hauptfiguren, der entlaufene Sklave Jim, darin unentwegt als „Nigger“ bezeichnet wird? War Mark Twain ein Rassist? Könnte sich zum Beispiel Amanda Gorman beleidigt fühlen, wenn sie diesen Roman liest? Sollte man den Roman säubern?

Ich möchte darauf hinweisen, dass der Autor einer der ersten und neben seinem englischen Kol- legen Sir Arthur Conan Doyle einer der wenigen war, die sich weltöffentlich über das Wüten des belgischen Königs Leopold II. im Kongo empörten. Ihn des Rassismus gegen Schwarze zu verdächtigen ist nicht nur höhnisch, sondern zeugt von einer Selbstgerechtigkeit, wie wir sie nur von indolenten Ungebildeten kennen.

Um noch einmal über „Othello“ zu sprechen: Der Philosoph Konrad Paul Liessmann, mit dem befreundet zu sein ich mich brüsten darf, hat einen interessanten Gedanken in einem Essay ausgeführt: Wie würden wir das Stück heute beurteilen, wenn Othello ein alter weißer Mann wäre – nicht ein Wörtchen des Textes müsste, wie gesagt, verändert werden – und sein Gegenspieler Jago ein junger Schwarzer? Lesen Sie das Stück, darum möchte ich Sie bitten! Und dann halten Sie Gewissenserforschung! Jago hasst Othello, der General hat einen anderen vorgezogen, als es darum ging, einen höheren militärischen Posten zu besetzen. Der machtlose Herabgesetzte greift zu dem einzigen Mittel, das ihm bleibt: zur Intrige. Plötzlich sehen wir in ihm nicht mehr das banale Böse, für das der Name Jago steht, sondern einen Rebellen, der sich gegen ein Unrecht zur Wehr setzt ... So könnte das Stück aussehen, wenn wir es im Kopf umschreiben ...

Ceterum censeo: Lesen Sie Shakespeare, Sie ersparen sich viele unangenehme Erfahrungen!

Weiterlesen: Alle Kolumnen von Michael Köhlmeier

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