Gelesen, gesehen, gehört. Tausende Male aufgeführt, vertont, verfilmt. In nahezu alle Sprachen dieser Welt übersetzt, divergent dargestellt, zum Kitsch degradiert. Und dennoch immer wieder ein Ereignis. Das berühmteste Liebespaar aller Zeiten, zerbrochen an den grausamsten Familien der Welt.

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Capulet versus Montague lautet die gewalttätige Fehde, an deren Höhepunkt zwei junge Menschen ihr Leben lassen. Von William Shakespeare erdacht und von Charles Gounod zur Oper verdichtet, lässt der Stoff bis heute Spielraum für Interpretationen – je nachdem, worauf man seinen Blick richten möchte. Und genau diese Ermessenshoheit ist es auch, die das Stück über die Jahrhunderte aktuell hält.

Marie-Eve Signeyrole hat eine klare Auffassung davon, welcher Figur ihr besonderes Interesse gilt. „Ich konzentriere mich auf Juliette, denn ich hatte bisher nie das Gefühl, mich in ihr zu erkennen. Obwohl sie eine moderne, starke Persönlichkeit repräsentiert und aus eigenem Entschluss das eherne Gesetz der beiden Familien bricht, wird sie stets sanftmütig und süß dargestellt, schön, meist gekleidet in unschuldiges Weiß. Ich wollte hingegen einen Charakter zeichnen, in dem sich auch junge Frauen wiederfinden können. Wobei es mir wichtig ist, die Paardynamik nicht aus dem Blick zu verlieren.“

Für sie sei Juliette auch nicht vierzehn, wie im Original, sondern um die zwanzig. „Auch wenn man mit Make-up Wunder vollbringen kann, sind Sängerinnen in der Regel keine Teenager“, meint sie amüsiert, „für mich ist sie jedenfalls kein Mädchen, sondern eine junge Frau.“ Und zwar eine, die bereits viel erlebt hat. Denn in Signeyroles Inszenierung ist Juliette ein früherer Kinderstar, der als „next big thing“ gehandelt wird, aber auch schon mit den dunklen, missbräuchlichen Seiten der Filmindustrie unliebsamen Kontakt hatte.

Mélissa Petit. Die international gefragte französische ­Sopranistin eröffnete 2022 mit „Das schlaue Füchslein“ die Intendanz Stefan Herheims am MusikTheater an der Wien und ist nun als Juliette zu erleben.

Foto: Andreas Jakwerth

Nah an der Realität

„Wir befinden uns in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre in Kalifornien“, erklärt die Regisseurin ihr Konzept, „die Capulets sind in den 1930er-Jahren vor dem faschistischen Regime in Italien geflohen und haben ihr Glück beim amerikanischen Film gesucht. Juliettes Vater ist zu einem erfolgreichen unabhängigen Filmemacher aufgestiegen und hat sie für ein Sequel besetzt. Ähnlich wie es Francis Ford Coppola mit seiner Tochter Sofia bei ‚Der Pate III‘ gemacht hat. Die Montagues sind ihre Gegenspieler, eine alteingesessene amerikanische Familie. Der Vater war als Schauspieler sehr erfolgreich und arbeitet nun auch als Regisseur und Produzent. Ähnlich wie Robert Redford. Reale Filmfamilien waren für diese Produktion inspirierende Vorbilder.“ Juliette habe jedoch keine Lust, als Filmstar zu reüssieren, sondern wolle eigene dokumentarische Filme drehen.

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„Sie filmt sich selber mit einer kleinen Handkamera, hält Urlaube und Städtereisen fest, experimentiert mit Drogen und inkludiert Roméo in ihr Leben. Wenn es in diesem Stück eine Muse gibt, dann ist er ihre, nicht umgekehrt. Sie ist in jeder Hinsicht ein extremer Charakter, er scheint mir viel romantischer und friedvoller zu sein.“

Juliettes Film sei das Tagebuch eines Selbstmords, erklärt Marie-Eve Signeyrole, denn es gebe aufgrund der festgeschriebenen Geschichte, deren Ende der Chor schon am Beginn der Oper preisgibt, ohnehin kein Entrinnen. „Sie weiß, dass sie die Welt verlassen wird, also tut sie dies mit jemandem, den sie liebt.“

Julien Behr
Julien Behr. Der studierte Jurist ch zum Gesang. Am MusikTheater an der Wien war er bereits in „Hamlet“, „Fidelio“ und „Idomeneo“ zu sehen. Nun gibt er Roméo.

Foto: Edouard Brane

Von der Leinwand auf die Bühne

Wie oft in ihren Arbeiten, wird die Regisseurin auch bei „Roméo et Juliette“ filmische Mittel zum Einsatz bringen, was sich bei diesem Exposé nahezu zwanghaft ergibt.

„Ich arbeite gerne mit Video, weil so die enorme Distanz zwischen den Darsteller*innen und dem Publikum leicht zu überwinden ist. Man kann auf diese Weise Emotionen viel intensiver erleben und verliert keine Details. Ich mache das nicht immer, der Einsatz einer Kamera muss schon Sinn ergeben. Aber gerade wenn Sänger*innen schauspielerisch talentiert sind, ist es ein Vergnügen, ihnen nahekommen zu können.“

Und Marie-Eve Signeyrole ist mit dem Medium bestens vertraut, denn ehe sie Opern inszenierte, war sie als Schauspiel- und Filmregisseurin aktiv. „Ich habe vor vielen Jahren eine Backstage-Dokumentation in der Pariser Oper gedreht und mich dabei in das Genre verliebt. Ich dachte, das ist wie Kino, nur eben live. Beim Film kann man jede Einstellung zwanzigmal wiederholen, auf der Bühne geht man ein Risiko ein. Ich liebe das, weil man sich selber viel mehr vertrauen muss.“ 2012 gab sie mit „Das schlaue Füchslein“ ihr Opernregiedebüt, seitdem sind die internationalen Musiktheaterbühnen ihr Zuhause. Daneben verwirklicht sie als Autorin auch eigene Stück-Ideen – wie das umjubelte Projekt „Baby Doll“ zum Beethoven-Jahr 2020.

Oder die gemeinsam mit dem Komponisten Keyvan Chemirani und der Dramaturgin Sonia Hossein-Pour realisierte Oper „Negar“ – 2022 an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt –, die eine lesbische Liebesbeziehung im Iran thematisiert und heuer in Montpellier wiederaufgenommen wird.

Kirill Karabits
Kirill Karabits. Der gebürtige Ukrainer ist Chefdirigent des Bournemouth Symphony Orchestra und arbeitete international mit führenden Orchestern wie den Münchner Philharmonikern. „Roméo et Juliette“ ist sein Hausdebüt.

Foto: Conrad Cwik

Geld und Gewohnheit

Warum gibt es ihrer Meinung nach so wenige zeitgenössische Opern auf den Spielplänen – und so viele, die seit Jahrhunderten im Repertoire sind? „Weil es sehr viel mehr kostet. Das ist die eine Antwort. Zweitens ist es so, dass die Leute lieber Musik hören, die sie schon kennen. Wenn ein Opernhaus ein modernes Stück herausbringt, hat es sehr wahrscheinlich Probleme, die Sitzreihen zu füllen. Man braucht also Mut dafür.“

Als Regisseurin seien Uraufführungen indes eine liebsame Herausforderung. „Man ist in der Umsetzung viel freier. Wenn es einen lebenden Komponisten gibt, kann man sich mit diesem austauschen, diskutieren, und wenn man draufkommt, dass ein Charakter nicht stimmig ist oder musikalisch etwas nicht passt, kann man das adaptieren und essenzieller machen.“

Welche Erwartungen hat sie an „Roméo et Juliette“? „Ich hoffe, dass das Publikum von diesem Stück gleichermaßen berührt sein wird, wie ich es bin. Mir geht es nicht darum, etwas Neues zu kreieren, mir ist wichtig, Gefühle zu vermitteln und den Zuschauer*innen die Chance zu eröffnen, sich in den Charakteren wiederzufinden.“

Zu den Spielterminen von „Roméo et Juliette“ in der Halle E“!