Es ist eine außergewöhnliche Premiere in einer außergewöhnlichen Zeit: Am Freitag feiert Rebecca Horner, Solotänzerin im Wiener Staatsballett, in „Mahler, live“ Premiere - gemeinsam mit hundert Kollegen und vor einem unbesetzten Zuschauerraum. Aber keineswegs ohne Publikum: Das Stück wurde live auf ARTE concerto gestreamt. Und Martin Schläpfers „4" wird am Dienstag, den 9. Dezember ab 9:05 Uhr auf ORF 2 gesendet. Mit der BÜHNE sprach die Tänzerin, der im Vorjahr der renommierte Fanny-Elßler-Ring verliehen wurde, über Proben mit Mund-Nasenschutz, ungewohnte künstlerische Freiheiten durch den neuen Staatsballett-Direktor Martin Schläpfer und die Kraft des Publikums.

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BÜHNE: Mit welchem Gefühl sehen Sie der Premiere in einer leeren Staatsoper entgegen?

Rebecca Horner: Ich rede mit meinen Kolleginnen und Kollegen noch gar nicht darüber, wie die Premiere sein wird, da wir in unseren Vorbereitungen gefangen und hundert Prozent bei der Sache sind. Wir bereiten uns so vor, als wäre der Saal voll. Ich glaube aber, es wird schon seltsam sein. Denn der Applaus fehlt. Wir Künstler leben von der unmittelbaren Reaktion des Publikums. Ich hoffe, es wird nicht zu ernüchternd. Und ich hoffe, es fühlt sich nicht so an wie eine Ballettprüfung, wenn man seine Variation abgeliefert hat und dann applaudiert keiner, sondern man geht einfach ab. Ich bin aber optimistisch, dass wir ein schönes Vorstellungsgefühl hinbekommen.

Haben Sie sich eine Strategie überlegt, wie Sie dieses „Prüfungsgefühl“ nach der Premiere vermeiden?

Rebecca Horner: Ja, es wird ja live-zeitversetzt übertragen. Ich habe den Plan, dass wir schnell nach Hause düsen und uns das Ende im Fernsehen anschauen. Zum einen liebe ich das Publikum, zum anderen ist es sicherlich unter den aktuellen Gegebenheiten die beste Lösung.

Wieviel bekommt man als Balletttänzerin in der großen Staatsoper vom Publikum überhaupt mit?

Rebecca Horner: Natürlich ist es vordergründig der Applaus, den man am Ende bewusst wahrnimmt, wenn man aus seiner „Vorstellungsblase“ heraustritt. Aber ich finde die Atmosphäre, die das Publikum schafft, ganz besonders. Das merkt man schon auch während der Vorstellung. Es ist eine unglaubliche Energie, die das Publikum auf die Bühne schickt, die mich als Tänzerin animiert und motiviert noch mehr zu geben. Ich bin gespannt, wie sich das auf uns Tänzer auswirkt, wenn wir diese große Kraft nicht spüren.

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Wie kann man sich die körperlich anstrengenden Proben unter den strengen Corona-Sicherheitsmaßnahmen vorstellen?

Rebecca Horner: Es ist ein vorsichtigeres Arbeiten. Das ist nicht so einfach, gerade wenn man 100 Prozent geben möchte. Wir sind knapp 100 Tänzer. Eine Woche voraus zu planen, ist schon eine Herausforderung in Zeiten von Corona. Der Probenplan musste ständig adaptiert werden. Es ist zudem notwendige Realität, dass wir jeden Tag getestet werden. Da sich dieses Virus so unterschiedlich verhält, war auch immer unklar, wann infizierte Kollegen wieder arbeiten können. Wir sind flexibler geworden und müssen spontaner handeln und denken.

Und nicht zu vergessen die Masken, die wir beim Training und den Proben tragen. Mir ist aufgefallen, dass ich unter der Maske ganz schräge Grimassen mache – durch die Atemnot. Man kann nicht die volle Menge an Luft einatmen, die man gewohnt ist. Ich hoffe, dass ich mir das nicht angewöhnt habe und bei der Generalprobe eine Überraschung erlebe. (lacht)

Die Proben zu "Mahler, live" fanden mit Maske und täglichen Covid-19-Testungen statt. Bei der Generalprobe und Premiere wird ohne Maske getanzt.

Foto: Wiener Staatsballett / Ashley Taylor

Rebecca Horner über Mahler, live: "Liebe, Hoffnung und Vergänglichkeit"

Was wird den Zuseher bei „Mahler, live“ erwarten?

Rebecca Horner: Es bietet sehr viel Interpretationsspielraum. Es ist auf jeden Fall auch eine Kritik an der Gesellschaft und auch Liebe, Hoffnung und Vergänglichkeit spielen eine Rolle – aber in subtiler Weise. Das Stück ist nicht provokant angelegt. Wenn man Lust hat und sich etwas dazu überlegen möchte, kann man aber schon einige Dinge erkennen.

Es ist ein Spiel mit den Emotionen und mit dem Himmlischen und Irdischen. Die Grenzen verwischen teilweise - auch in meiner Rolle beziehungsweise in den Rollen von Yuko Kato (Senior Artist Mitglied des Wiener Staatsballetts, Anm. der Redaktion) und mir. Wir treten streckenweise wie in Symbiose auf. Es ist nicht eindeutig, ob wir Engel sind, denn wir zeigen auch menschliche Gefühle.

Rebecca Horner und Yuko Kato werden in "Mahler, live" gemeinsam tanzen. Ob sie Engel oder Menschen sind, bleibt der Interpretation des Publikums überlassen.

Foto: Wiener Staatsballett / Ashley Taylor

Getanzt wird zu Gustav Mahlers vierter Symphonie. Wie hat die Musik das Stück geprägt?

Rebecca Horner: Es passiert so viel in der vierten Symphonie. Es ist gar nicht so einfach alles zu erzählen, was Gustav Mahler eigentlich sagen wollte. Wir deuten viele Themen an und zeigen Fragmente davon. Denn das Stück ist gar nicht lang genug, um alle Themen auszuarbeiten.

Wenn man die Freiheit bekommt, man selbst zu sein und etwas von sich selbst zu geben – aber noch nicht sofort weiß wie – dann ist das einschüchternd. Wenn man sich aber darauf einlässt, ist es ein wunderbares Gefühl."

Martin Schläpfer präsentiert mit „Mahler, live“ auch sein erstes Programm als neuer Leiter des Wiener Staatsballetts. Sie sind immerhin seit 13 Jahren im Staatsballett. Wie hat Martin Schläpfer ihre Arbeitsweise verändert?

Rebecca Horner: Es ist für mich ein schöner Kontrast zu den Jahren davor. Die Freiheit, die ich von Anfang an zugesprochen bekommen habe, die war mir in der ersten Probe noch gar nicht so recht. Ich habe nicht damit gerechnet und wusste nicht genau, wie ich damit umgehen soll. Ich habe es danach erstmal setzen lassen und reflektiert. Wenn man die Freiheit bekommt, man selbst zu sein und etwas von sich selbst zu geben – aber noch nicht sofort weiß wie – dann ist das einschüchternd. Wenn man sich aber darauf einlässt, ist es ein wunderbares Gefühl. Die nächste Probe war schon hundertmal einfacher. Es ist schön, dass ich mich künstlerisch so involvieren darf. Martin Schläpfer vermittelt uns, dass es kein „falsch“ gibt, sondern nur mehrere Versionen und wir entscheiden uns für eine.

"Mahler, live" war das erste große Projekt des neuen Ballett-Direktors Martin Schläpfer und feierte Anfang Dezember 2020 Premiere.

Foto: Wiener Staatsballett / Ashley Taylor

Zur Person: Rebecca Horner

Rebecca Horner, geboren 1989 in Wien, am Performing Center Austria und an der Ballettschule der Wiener Staatsoper ausgebildet, ist seit 2007 Mitglied des Staatsballetts. Manuel Legris ernannte sie 2015 zur Halbsolistin und 2017 zur Solotänzerin. Als Kind spielte die Künstlerin bereits in Filmen an der Seite von Otto Schenk, wandte sich aber dann ganz dem Tanz zu. 2019 erhielt sie den renommierten Fanny-Elßler-Ring. Er wird als Äquivalent zum Iffland-Ring an hervorragende österreichische Tanzkünstler verliehen. Horner hat mit dem Balletttänzer Andrey Kaydanovskiy zwei Töchter.

Termine für Mahler, live

Die Premiere von "Mahler, live" kann wegen der vorübergehenden Schließung aller österreichischen Bühnen im Rahmen der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie nicht vor Publikum stattfinden, wird aber am Freitag, 4. Dezember, ab 20.30 Uhr im Rahmen der ARTE "Opera Season" auf ARTE concert live-zeitversetzt gestreamt. Am Dienstag, 8. Dezember folgt um 9.05 Uhr eine erneute Ausstrahlung von Martin Schläpfers 4 in der ORF2-Sendung "Matinee".

Weitere Details unter wiener-staatsoper.at

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