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Die neue Ballettchefin Alessandra Ferri in der Wiener Staatsoper.

Die neue Ballettchefin Alessandra Ferri in der Wiener Staatsoper.
Foto: Hilde van Mas

Alessandra Ferri: Von Liebe und Wut

Wiener Staatsoper

Ein französischer Filmstar schrieb das Libretto. Alessandra Ferri engagierte die besten jungen Tänzer*innen. Die Musik ist ein Hit. Das Stück: die größte Liebesstory der Antike. Der Choreograf: Alexei Ratmansky. Alle Details zur Premiere von „Kallirhoe“.

Wie schön ist die Ballettkompanie? Ist diese Frage überhaupt zulässig? Im Zusammenhang mit Athlet*innen, die wie Magier in der Lage sind, Schönheit zu produzieren, indem sie ihre inneren Gefühle, die Größe der Musik, die Anweisungen der Choreografie einmal durch ihren Körper jagen, es in den inneren Mixer werfen, um es dann als großes ästhetisches Meisterwerk auf die Bühne zu bringen.

Wie ticken diese Ausnahmekünstler*innen? Was muss wer mitbringen, um überhaupt in die Kompanie des Wiener Staatsballetts aufgenommen zu werden?

Wie schön? Wie gut?

„Ich brauche Tänzer*innen, die nicht tanzen wollen. Ich brauche Tänzer*innen, die tanzen müssen.“ Alessandra Ferri, die neue Ballettchefin lächelt. „Ich glaube an diesen Satz von George Balanchine.“

Wie so oft zuckeln wir mit dem Lift-Regionalzug der Wiener Staatsoper in den vierten Stock. Dort ist eine Art kleiner Kinosaal eingerichtet. Hier können jene Menschen, die zu spät zur Vorstellung gekommen sind, bis zur ersten Pause warten und via Schirm das Geschehen im Saal verfolgen.

Hier treffen wir Timoor Afshar, den ersten Solotänzer, und die Solotänzerin Rosa Pierro. Wir werden über die erste Ballettpremiere der Saison sprechen und darüber, wie der Tanz ihr Leben verändert hat und warum gerade sie von Alessandra Ferri, der Primballerina assoluta, ausgewählt wurden.

Foto: Hilde van Mas
Zur Person: Alessandra Ferri

Mit 15 wurde Alessandra Ferri am Royal Ballet in ­ London zuerst an der Schule, dann ins Ensemble ­ aufgenommen. Später war sie Prima­ ballerina an der Scala und in New York. Ihr Comeback gab sie 2013 mit „The Piano Upstairs“, es folgten „Woolf Works“ (Wayne McGregor, 2015), „Duse“ (John Neumeier, 2016) und viele andere. 2024 trat sie ­ zurück. Seit dieser Saison ist sie die neue Ballettdirektorin des Wiener Staatsballetts und hat zahlreiche neue Tänzer*innen engagiert.

„Ich glaube an Tänzer*innen, die tanzen, weil sie keine andere Wahl haben. Talent hat derjenige, der den Mut hat, über die bloße Performance hinauszugehen. Die Tänzer*innen müssen uns zeigen, wer sie wirklich sind. Es ist nicht die oder der perfekte Tänzer*in, die oder den ich suche. Ich suche Tänzer*innen mit ausgeprägten technischen und interpretatorischen Fähigkeiten, um das Repertoire, das wir aufführen werden, präsentieren zu können. Ich habe einen gewissen Standard und den möchte ich auch vermitteln.“

Rosa Pierro wurde in Rom geboren und an der Ballettakademie der Wiener Staatsoper sowie der Academia nazionale di danza und dem Teatro dell’Opera di Roma ­ausgebildet. In der Spielzeit 2015/16 war sie Mitglied der Jugendkompanie der Ballettakademie der Wiener Staatsoper. Es folgten Engagements am Ungarischen und Polnischen Nationalballett, als Erste Gastsolistin am Ballet Ireland sowie zuletzt als Solistin am Aalto Ballett Essen. Seit dieser Saison ist sie Solotänzerin des Wiener Staatsballetts.
Foto: Hilde van Mas
Rosa Pierro wurde in Rom geboren und an der Ballettakademie der Wiener Staatsoper sowie der Academia nazionale di danza und dem Teatro dell’Opera di Roma ­ausgebildet. In der Spielzeit 2015/16 war sie Mitglied der Jugendkompanie der Ballettakademie der Wiener Staatsoper. Es folgten Engagements am Ungarischen und Polnischen Nationalballett, als Erste Gastsolistin am Ballet Ireland sowie zuletzt als Solistin am Aalto Ballett Essen. Seit dieser Saison ist sie Solotänzerin des Wiener Staatsballetts.

Darum geht es.

Die erste Produktion ist also „Kallirhoe“. In den USA, wo das Stück bereits 2020 Premiere hatte, lief es unter dem Titel „Of Love and Rage“ („Von Liebe und Wut“). Und darum geht es in „Kallirhoe“: Wenn es nicht die größte Liebesgeschichte aller Zeiten ist, dann ist es vielleicht die älteste. Das Ballett basiert auf einem Werk des griechischen Schriftstellers Chariton aus dem 1. Jahrhundert, einem romantischen Abenteuer über die berühmte Schönheit Kallirhoe und ihren Geliebten Chaireas.

Eifersüchtige Verehrer, verzaubert von Kallirhoes Charme, verschwören sich, um Chaireas glauben zu machen, seine neue Braut sei untreu. Das Paar wird getrennt und muss Krieg und Chaos ertragen, bevor es, weiser und tiefer verliebt, wieder vereint wird.

So wird die Choreografie.

„Es geht um große Leidenschaft und um Abenteuer. Die erste Liebe, die dann als reife Emotion zurückkehrt, gefestigt  durch die Erfahrung schrecklicher Unglücke. Es ist eine sehr leidenschaftliche Liebe, die sich von allen Emotionen und Themen am besten für Tanz und Ballett eignet“, sagt Ratmansky.

„Die Inszenierung ist stark von antiken griechischen Bildern und Skulpturen beeinflusst. Daher denke ich, dass die von mir verwendete neoklassische Sprache keinen Konflikt zwischen Stil und Geschichte darstellt. Es gibt zwar zeitgenössische Einflüsse, aber es ist eher ein neoklassischer Tanzstil.“

Für mich ist der Ballettsaal der einzige Ort auf der Welt, an dem ich mich frei fühle.

Rosa Pierro, Tänzerin

So wird die Musik.

Fließende Gewänder. Große Bühne. Großes Licht. Wer auf klassisches Ballett fixiert ist, wird es lieben. Wer es moderner will – auch. Eine der großen Brücken zwischen dem Jetzt und dem Früher ist die unsterbliche Musik des armenischen Komponisten Aram Chatschaturjan. Der Säbeltanz machte ihn weltweit bekannt und auch der darf bei „Kallirhoe“ mitspielen. Ebenso wie andere Ausschnitte aus seinem Ballett „Gayaneh“, das 1941 entstanden ist und bei Weitem nicht so bekannt ist wie sein berühmtestes Werk: „Spartacus“. Chatschaturjans Musik ist oft treibend, kraftvoll und rhythmisch.

In ruhigen, stillen Momenten durchdrungen von der typisch orientalischen Melancholie.

Der in den USA geborene Tänzer Timoor Afshar wurde von Martin Schläpfer vor zwei Jahren nach Wien geholt und wurde schnell zu einem der Publikumslieblinge. Anfang September wurde er zum Ersten Solotänzer des Wiener Staatsballetts ernannt.
Foto: Hilde van Mas
Der in den USA geborene Tänzer Timoor Afshar wurde von Martin Schläpfer vor zwei Jahren nach Wien geholt und wurde schnell zu einem der Publikumslieblinge. Anfang September wurde er zum Ersten Solotänzer des Wiener Staatsballetts ernannt.

Ich bin in meinem tiefsten Inneren ein Geschichtenerzähler.
Timoor Afshar, Erster Solotänzer

Filmstar als Librettist.

Übrigens: Das Libretto hat Ratmansky dann mit dem Filmemacher, Schriftsteller und Schauspieler Guillaume Gallienne erarbeitet. Gallienne ist einer der beliebtesten und erfolgreichsten Filmstars Frankreichs und spielte zuletzt an der Seite von Kate Winslet. Sie sehen: Mehr Profis an einem Werk geht eigentlich fast nicht mehr. Sind da jetzt noch Fragen offen?

Vielleicht eine noch: Warum sind diese antiken Geschichten eigentlich so unsterblich, Frau Ferri?

Die neue Ballettchefin lächelt und sagt: „Weil wir in unseren Emotionen und Gefühlen unsterblich sind. Wir haben uns nicht verändert. Wir sind immer noch dieselben Menschen.“ Klingt nach Hoffnung, Bedrohung und Frustration zugleich. Aber auch danach, dass wir Menschen im großen Universum doch nicht so einzigartig sind, wie wir es uns selber und wie es uns die sozialen Medien glauben machen.

Foto: Hilde van Mas

Ferri, die Große.

Fast 50 Jahre stand Alessandra Ferri selbst auf der Bühne – zuletzt im Sommer 2024. Sie selber hat der Vergänglichkeit immer wieder durch Neuerfindung ein Schnippchen geschlagen: „Jeden Tag muss man sich den Schwierigkeiten stellen, besser zu werden, sich seiner Verletzlichkeit, seiner Zerbrechlichkeit und seiner Stärke stellen. Aus diesem Blickwinkel ist Tanz ein Spiegel. Denn durch den Weg, den ein Tänzer täglich durchmachen muss, wird er zu diesem Spiegel. Wissen Sie, man verändert auch sein Instrument. Der Körper ist lebendig und der Körper verändert sich ständig – auch emotional. Je nachdem, was im Leben passiert. Man wird also jeden Morgen mit einem neuen Instrument konfrontiert. Ja, auch Musikinstrumente ändern sich, aber es gibt mehr zu arbeiten, wenn das Instrument man selbst ist.“

Jetzt hat sie einen Teil der Kompanie erneuert. Es sind viele junge, interessante Tänzer*innen an Bord. Der eine ist – wie schon vorher erwähnt – Timoor Afshar, der einen Tag vor unserem Treffen zum Ersten Solotänzer ernannt wurde, und die andere ist Solotänzerin Rosa Pierro.

Wie kommt man als Tänzer*in an die Spitze, Frau Ferri?

Der einzige Weg zur Freiheit ist Disziplin und Leidenschaft. Um zu erreichen, was einen erfüllt und glücklich macht, braucht man Disziplin. Freiheit besteht darin, anzukommen und das zu tun, was du willst.

Dafür muss man Arbeit investieren. Das kann innere Arbeit sein, aber auch äußere. Ich habe den Probenprozess oft mehr genossen als die eigentliche Aufführung, weil die Proben immer eine Reise des Lernens sind. Das ist anstrengend, aber es bringt dich weiter.“

Ich brauche keine Tänzer*innen, die tanzen wollen. Ich brauche Tänzer*innen, die tanzen müssen.“

Alessandra Ferri, Ballettdirektorin

Der Erste Solotänzer.

Sätze, die auch von Timoor Afshar stammen könnten. Martin Schläpfer hat den gebürtigen Amerikaner vor zwei Jahren nach Wien geholt. Davor war er lange in Stuttgart – hatte dort auch begonnen, selbst zu choreografieren. Hier in Wien dauerte es nicht lange, bis er sich in die Herzen aller tanzte.

Sein Durchbruch zum echten Publikumsliebling: Die Verkörperung des Armand Duval in John Neumeiers „Die Kameliendame“ (neben einer großartigen Ketevan Papava). „Es erfüllt sich ein Traum. Es war nicht immer so klar, dass ich tanzen werde. Ich habe als Kind Musik geliebt und Klavier gespielt, aber ich war nicht übermäßig talentiert. Erst dieses Zusammenspiel von Bewegung im Raum und Musik war für mich das perfekte Match. Und daraus ist mit der Zeit eine tiefe Beziehung entstanden. Ich bin in meinem Innersten ein Geschichtenerzähler. Es ist für mich ein Geschenk, eine Freude, wenn ich beim Tanzen die Geheimnisse, die in unseren Körpern verborgen sind – die Schmerzen, die Freude, die Liebe – herausarbeiten kann.“

Rosa Pierro und Timoor Afshar
Foto: Hilde van Mas
Rosa Pierro und Timoor Afshar

Haben Sie schon das Libretto zu „Kallirhoe“ gelesen?

Nein. Ich mache das nicht mehr. Ich möchte erst vom Choreografen erfahren, was er sich gedacht hat, wie er die Geschichte interpretiert. Das macht mich freier. Früher habe ich oft das Libretto gelesen und bin dann mit meiner Interpretation in die Proben gegangen. Wenn sich die nicht mit der des Choreografen deckt, führt es zu Enttäuschungen.

Was braucht es, um im Ballett erfolgreich zu sein?

Man muss vor allem wissen: Ballett ist nichts für jeden. Es ist ein schwieriger Beruf. Aber wenn man es wirklich versuchen will, dann muss man vor allem ehrlich zu sich selber sein – nur dann kann etwas Gutes entstehen. Ballett ist ein soziales Wesen – wir müssen auf andere Menschen zugehen und mit ihnen sehr eng arbeiten. Dazu kommt, dass wir immer den perfekten Tanz auf die Bühne bringen wollen, die perfekte Körperhaltung, aber das geht nicht immer.

Wie schwierig ist es eigentlich, sich bei den Proben permanent im Spiegel zu sehen? Für mich wäre das ein Albtraum.

Es war auch für mich am Anfang schwierig, weil man mit all seinen Nachteilen und auch Vorteilen konfrontiert wird. Wenn man sich dann vielleicht noch mit anderen Tänzern vergleicht, die man für besser oder schöner hält – dann führt das zu nichts. Man kommt nur mit Ehrlichkeit und dem Wissen um sein wahres Ich voran. Es ist schwierig, immer sein Spiegelbild zu sehen, aber man muss lernen, damit umzugehen.

Rosa Pierro nickt. In Rom geboren, begann sie noch vor der Volksschule zu tanzen. Zwischen 14 und 18 war sie bereits in Wien an der Ballettakademie. Jetzt ist sie eines der Gesichter, auf die Alessandra Ferri setzt, die für sie die Zukunft des Wiener Staatsballetts repräsentieren. Rosa Pierro wird sichtbar verlegen.

„Das ehrt mich sehr. Alessandra war immer ein Idol. Mit ihr zu arbeiten, ist surreal. Auf ihr Wissen, auf ihre Erfahrung zugreifen zu können, ist ein Geschenk.“

Der einzige Weg zur Freiheit ist Disziplin.

Alessandra Ferri, Primaballerina assoluta

Wie fühlt sich Tanzen an, Frau Pierro?

Für mich ist der Ballettsaal der einzige Ort auf der Welt, an dem ich mich völlig frei fühle. Tanzen kann wie Fliegen sein – nicht nur körperlich, sondern auch emotional. Vor allem dann, wenn ich es schaffe, durch meinen Tanz eine Geschichte zu erzählen und Emotionen auslösen kann.

Dann ist alles gut.

Hier geht es zu den Spielterminen von Kallirhoe in der Wiener Staatsoper!

Opernring 2
1010 Wien
Österreich
Unsplash

Erschienen in
Bühne 08/2025

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Atha Athanasiadis
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