Das Handy liegt stets griffbereit. Keren Kagarlitsky entschuldigt sich für das, was jeder versteht. Die Dirigentin stammt aus Israel und will permanent für ihre Familie erreichbar sein. Zeitweise habe sie das Gefühl, dass nicht nur auf der Bühne von „Lass uns die Welt vergessen“ die Ebenen von Realität und künstlerischer Fiktion verschwimmen würden, sondern dass dies auch in ihrem Dasein so sei. „Es ist so, als hätte ich keinen Kontrast zwischen Arbeit und Leben. Einen Tag nach dem Überfall der Hamas auf Israel musste ich ‚La Cenerentola‘ dirigieren, was wirklich schwer für mich war, weil das eine ausnahmslos fröhliche Oper ist. Mittlerweile hilft mir diese Kontrastlosigkeit beim Komponieren. Ich wache morgens auf, schaue und lese die Nachrichten, weine und fange dann an zu komponieren. Das ist seit Wochen mein Alltag.“

Anzeige
Anzeige

Sie habe lange überlegt, ob sie Sätze wie diese überhaupt öffentlich sagen solle, da ihr Empfinden doch sehr privat sei. Andererseits ließen sich die Dinge angesichts ihrer Biografie auch nicht leugnen. Ignoranz käme ihr ebenso falsch vor.

Theu Boermans

Theater, das Geschichte schreibt

Heute bejubelt. Morgen entlassen, geflohen, deportiert, tot­geschwiegen. Die Volksoper stellt sich der eigenen Vergangenheit und arbeitet mit der Revue „Lass uns die Welt vergessen“ das Jahr 1938 und seine Folgen auf. Regiestar Theu Boermans inszeniert die beispiellose Bewältigung. Weiterlesen...

Musikalische Rekonstruktion

Keren Kagarlitsky musste für „Lass uns die Welt vergessen“ zunächst die Musik von „Gruß und Kuss aus der Wachau“ vollständig orchestrieren, da ihr lediglich ein Klavierauszug von Jara Beneš vorlag. „Ich habe versucht, ihm gegenüber so loyal wie möglich zu sein, und bin den kleinen Hinweisen, die der Komponist in diesem Klavierauszug notiert hat, akribisch gefolgt. Das habe ich gemacht, ehe ich das Textbuch gelesen habe, weil es mir wichtig war, mich exklusiv mit dieser un-beschwerten Operette zu beschäftigen.“

Nach Lektüre des Stücks habe sie schließlich entschieden, auch Werke von Arnold Schönberg, Viktor Ullmann und Gustav Mahler zu integrieren. „Ich habe ‚Verklärte Nacht‘ von Schönberg ausgewählt, weil es, wie das ganze Stück, einen Kontrast behandelt – in diesem Fall zwischen dem wunderschönen goldenen Wien und dem Wien der Zukunft. Er hat es 1899 geschrieben und 1917 sowie 1943, also jeweils im Krieg, modifiziert. Es klingt romantisch, trägt aber eine Art von Zerstörung in sich. Dann habe ich ein kleines Intermezzo aus Viktor Ullmanns ‚Der Kaiser von Atlantis‘ ausgesucht, weil es eine Kritik an Führerfiguren ist und mir deshalb essenziell erschien. Und ich habe Gustav Mahlers 1. Sinfonie, 3. Satz, also den Klezmer-Teil, in die Produktion mitaufgenommen. Mahler ist ein anderes Kaliber. Jüdisch, aber nicht wirklich; österreichisch, aber nicht wirklich; ein Leben voller Tragödien. Auch bei der Klezmermusik fragt man sich: Ist das tatsächlich jüdisch? Ist das wirklich optimistisch?“

Der dritte Arbeitsschritt umfasst originäre Tonschöpfungen von Keren Kagarlitsky, die Komposition studierte, ehe sie Dirigentin wurde. „Im zweiten Akt verwischen die Grenzen zwischen Realität und Operette komplett. Dafür musste ich meine eigene Musik finden. Wir bauen an einem Abend also eine Operette auf und zerstören sie am selben Abend auch wieder. Das in dieser Stadt, in diesem Haus, mit diesem musikalischen Team zu tun ist unglaublich mutig. Ich bin wirklich sehr stolz, an dieser Produktion beteiligt zu sein.“

Anzeige
Anzeige

Sie arbeite etwa seit einem Jahr, wenn auch nicht permanent, an „Lass uns die Welt vergessen“, ihre eigenen Kompositionen entstünden erst jetzt im szenischen Probenprozess. „Ich muss die Menschen spüren und die Szenen fühlen können, ehe ich eine Begleitung dafür schreiben kann. Deshalb habe ich damit zugewartet. 90 Prozent der Musik sind bereits fertig, und ich weiß, dass es die richtige Entscheidung war, es so zu machen.“

Ausnahmslos alle Menschen

Noch vor einem Monat hätte sie gesagt, sie widme das Stück den Künstler*innen von 1938. „Jetzt ist es für alle Individuen unserer Zeit. Ich finde sogar, dass es die wichtigste Produktion in diesem Jahr ist. Jede Gesellschaft muss sich ständig selbst hinterfragen und danach trachten, besser zu werden und an der Seite der Menschen zu stehen. Und jeder von uns sollte ebenfalls seine selbstreflexiven Momente haben. Wir müssen Hass und Rassismus stoppen. Wenn uns dieses Stück darauf aufmerksam machen kann, dass sich die Vorgänge von 1938 jederzeit wiederholen können, ist schon viel erreicht.“

Kunst könne zumindest einen Spiegel vorhalten. „Das Timing der Produktion ist so absurd und so real.“ Es falle ihr schwer, Wünsche für sich zu haben, weil ihr das egoistisch vorkäme. Manchmal fühle sie sich schuldig, weil es ihr gut gehe. „Ich habe mir in den letzten Wochen oft gewünscht, in Israel zu sein, weil ich dort mithelfen und einfach trauern könnte, denn ich kenne viele der Betroffenen. Alles, was ich hier in Österreich tun kann, ist meine Arbeit. Das ist meine Unterstützung als Künstlerin für alle Menschen, die leiden. Für Israelis genauso wie für Palästinenser.“