Seit „Alice im Wunderland“ sollte klar sein: In neue Welten taucht man am allerbesten über Kaninchenlöcher ein. Das gilt auch für die Produktionen der britischen Theaterkompagnie 1927, die gerade das Stück „Mehr als alles auf der Welt“, ihr Burgtheater-Debüt, vorbereitet. Den Schlüssel, um in die bunten, tanzenden Bildwelten von Suzanne Andrade, Esme Appleton und Paul Barritt zu gelangen, braucht man jedoch nicht erst zu suchen. Den haben alle Zuschauer*innen bereits in der Tasche. „Theater ist für alle“, bringt Suzanne Andrade, Co-Artistic Director bei 1927, einen der Leitgedanken der interdisziplinär arbeitenden Gruppe auf den Punkt. Das bedeutet für sie auch, dass niemand Angst zu haben braucht, ihre Geschichten nicht entschlüsseln zu können.

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Auf mehreren Ebenen

„Das Theater wird von vielen Menschen immer noch als sehr elitäre Institution wahrgenommen“, sagt Andrade, die wir gemeinsam mit Esme Appleton, ebenfalls Mitbegründerin der Kompagnie, nach der Probe im Arsenal treffen. Dem setzen 1927 den Anspruch entgegen, auf unterhaltsame Art tiefgründige Theater- und Opernabende zu entwickeln, aus denen jede und jeder etwas mitnehmen kann. „Auch deshalb, weil die Stücke auf mehreren Ebenen funktionieren“, erklären die beiden in London lebenden Künstlerinnen. Wie man sich das vorstellen kann? „Ein bisschen so wie bei den Simpsons“, antwortet Suzanne Andrade lachend. In den Stücken der 2005 gegründeten Theatergruppe ist nämlich für „highbrow references“ und politische Anspielungen ebenso Platz wie für Emotion, Spaß und eine ordentliche Portion schwarzen Humor.

Esme Appleton und Suzanne Andrade
Halt geben und Haltung zeigen. Die Stücke von 1927 entstehen in kollaborativen Prozessen und haben immer auch eine politische Agenda. Unterhaltung und Spaß kommen trotzdem niemals zu kurz.

Foto: Victoria Nazarova

Neues Terrain

Das gilt auch für „Mehr als alles auf der Welt“, das sich um die 13-jährige Kim dreht, die mit ihrem Bruder und ihrer alleinerziehenden Mutter in einer trostlosen Gegend Englands lebt. Von ihrem Vater, der sich an einem ihr unbekannten Ort aufhält, erhält sie Briefe, in denen er seiner Tochter von seinen fantastischen Abenteuern erzählt.

Die Idee zu dem Stück, das 1927 in der für die Gruppe typischen Weise – in einem Zusammenspiel aus Schauspiel und Animation – umsetzen, trägt Suzanne Andrade schon seit einigen Jahren mit sich herum. „Als mein Vater starb, fand ich Briefe von ihm, die er mir aus dem Gefängnis geschrieben hat. Sie waren so verfasst, dass man das Gefühl hatte, er würde die Zeit dort total genießen. Er schrieb, dass es jeden Tag Pommes zu essen gäbe und er ständig mit Kobolden und Trollen zu tun hätte“, legt die Regisseurin, Autorin und Performerin den Ursprung des Stücks offen.

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Wir lassen uns auf die Emotionen ein und unterwandern sie nicht sofort mit einem Witz.

Suzanne Andrade

Emotionales Neuland

Mit diesen Briefen und der anfangs noch vagen Idee, daraus ein Stück zu machen, ging sie schließlich zu Esme Appleton und Paul Barritt, und aus vielen Gesprächen und Diskussionen entstand schließlich ein grobes Konzept, das sich nach und nach in ein Theaterstück verwandelte. „Kein einfaches, aber ein sehr wichtiges Thema“, wie Suzanne Andrade nach einer kurzen Pause ergänzend anmerkt. Für die beiden Theatermacherinnen und den Rest der Kompagnie ergab sich dadurch außerdem die Chance, auch auf inhaltlicher Ebene zwei Welten miteinander zu verbinden. „Die fantastische Welt der Briefe prallt auf den eher ernüchternden Familienalltag“, so Esme Appleton. Mit Letzterem begeben sich 1927, deren Stücke bislang immer eher im Fantastischen angesiedelt waren, auf ein für sie neues Terrain.

Auch der große emotionale Anteil des Stücks sei für die beiden Neuland. „Wir lassen uns auf die Emotionen ein und unterwandern sie nicht sofort mit einem Witz“, hält Suzanne Andrade mit sehr viel Klarheit fest. Sich ein wenig in diesem Meer aus Emotionen zu verlieren muss jedoch nicht gleich den Verlust der eigenen Agenda bedeuten. Denn auch die politische Dimension der Geschichte, der 1927 stets viel Platz einräumen, ist immer noch gut spürbar. „Es ist ein zutiefst politisches Stück, aber auf etwas andere Weise als bisher“, fasst sie zusammen.

Suche nach Wahrhaftigkeit

Während sich auf formaler Ebene die Interaktion zwischen den Spieler*innen und den von Paul Barritt entworfenen Animationen wie ein roter Faden durch die bisherigen Arbeiten der Gruppe zieht, ist es auf inhaltlicher Ebene das Thema der ungerechten Verteilung von Geld und Gütern. „Aber auch von Macht“, wirft Esme Appleton ein. „In vielen unserer Stücke beschäftigt uns die Frage, wer am längeren Hebel sitzt und warum. Deshalb kommen auch immer wieder überdimensionale Hände vor, die von oben nach Figuren greifen.“

Es ist immer eine Form von Wahrhaftigkeit, nach der wir suchen.

Esme Appleton

In die Interaktion mit den auf eine weiße Wand projizierten Animationen müssen Schauspieler*innen, die mit dieser Form des Zusammenspiels bislang noch nichts zu tun hatten, meist erst hineinfinden. Suzanne Andrade und Esme Appleton ist es deshalb wichtig, dabei sehr behutsam vorzugehen. „Wenn man das nicht tut, kann es vorkommen, dass die Spieler*innen beginnen, sich wie Marionetten zu bewegen. Wir haben ein paar Spiele und Übungen, die dabei helfen. Außerdem ist es sinnvoll, wenn die Spieler*innen einander zusehen können“, sagt Andrade, die sich mit dem Burgtheater-Ensemble auch in dieser Hinsicht gut aufgehoben fühlt. „Es ist immer eine Form von Wahrhaftigkeit, nach der wir suchen“, ergänzt Esme Appleton, „sowohl in der Geschichte als auch in den Charakteren.“

Esme Appleton und Suzanne Andrade
Auf dem Boden geblieben. Mehr als eine Million Menschen sahen die 1927-Produktion der „Zauberflöte“. Abgehobenheit sucht man bei Suzanne Andrade und Esme Appleton dennoch vergeblich.

Foto: Victoria Nazarova

Ein Overheadprojektor als Startpunkt

In den Produktionen der Londoner Theaterkompagnie zeigt sich deshalb auch, wie wenig Wahrhaftigkeit und Wahrheit in der Theaterwelt von Fakten abhängig sind. „Wir verorten unsere Stücke weder in einem bestimmten Jahr, noch arbeiten wir mit konkreten Orten. Es gibt jedoch immer wieder subtile Realitätsbezüge, die Suzanne geschickt in die Geschichten einbaut. Auf diese Weise gelingt es dem Publikum, Verbindungen zur eigenen Lebensrealität herzustellen“, erklärt Esme Appleton und blickt dabei zu ihrer Freundin und Kollegin, die sie schon seit ihrer Collegezeit kennt. Appleton spielte unter anderem im Diplomstück ihrer damaligen Kommilitonin mit, auch ein Overheadprojektor war involviert. Möglicherweise ein erster Grundstein für alles, was noch kommen sollte.

Einmal um die ganze Welt

Seit damals hat sich viel getan, nicht nur in Sachen Equipment. Die Idee, Animation und Schauspiel miteinander zu verbinden, war aber von Anfang an da, wenn auch zu Beginn noch nicht in dieser symbiotischen Form. Einflüsse kamen vor allem aus der Filmwelt. Esme Appleton erwähnt unter anderem den französischen Illusionisten, Theaterbesitzer und Filmpionier Georges Méliès.

Wichtige Türen öffneten sich für die Gruppe unter anderem durch den großen Erfolg der „Zauberflöte“, die 2012 an der Komischen Oper Berlin Premiere feierte und von dort aus die ganze Welt eroberte.

Theater nach den Regeln des Theaterkollektivs könnte also bedeuten: Am Ende des Kaninchenbaus ist nicht einfach nur Licht, sondern eine von Lichtgestalten bevölkerte bunte Welt.

Esme Appleton empfiehlt in Wien übrigens das Uhrenmuseum im ersten Bezirk. Zufall? Da wäre doch noch dieses weiße Kaninchen mit seiner Taschenuhr …

Zur Person: Esme Appleton

ist Gründungsmitglied und Associate Artistic Director der inter­ national erfolgreichen Theatergruppe 1927. Sie ist ausgebildete Schauspielerin und bei 1927 auch ins Kostüm­ design involviert.

Zur Person: Suzanne Andrade

gründete 2005 ge­meinsam mit Esme Appleton und Paul Barritt die Theater­kompagnie 1927. Esme Appleton lernte sie wäh­rend des Schauspiel­studiums kennen. Beide Künstlerinnen leben in London. Suzanne Andrade ist Co­ Artistic Director von 1927.

Zu den Spielterminen von „Mehr als alles auf der Welt“ im Akademietheater!