Erschwerte Umstände. Über Literatur zu schreiben, ist grundsätzlich ein Dilemma, weil man den Rezipienten eigentlich nur raten kann, selbst zu lesen. Und es wird nicht leichter, wenn man einen Text prinzipiell bejubeln möchte, sich als Fanboy mit Ü50 aber zu Recht peinlich findet.

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Kurz zu den Fakten. „Echtzeitalter“ des österreichischen Schriftstellers Tonio Schachinger erschien 2023, wurde im selben Jahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet und befindet sich aktuell in der elften Auflage. Seine Filmrechte wurden verkauft, im Dezember hatte bereits eine Dramatisierung im Grazer Schauspielhaus Premiere – nun widmet sich eine Bühnenfassung von Gerald Maria Bauer am Theater der Jugend dem Coming-of-Age-Stoff.

Im Mittelpunkt der präzise erzählten Geschichte, die in wenigen Sätzen psychologische Universen zu eröffnen vermag, steht Till Kokorda, dessen Eltern es für eine gute Idee halten, ihn im nur notdürftig fiktiven Elitegymnasium Marianum unterzubringen, wo seine Mitschüler zum größten Teil Kinder von Anwälten, Ärzten und Wirtschaftstreibenden sind, garniert mit ein paar Abkömmlingen altösterreichischen Adels, die sich selbst wiederum nur vorstellen können, Jus, Medizin oder Betriebswirtschaft zu studieren.

Wie ein böser Geist, stets bereit, aus dem vermeintlichen Nichts aufzutauchen und akkurate Strafhandlungen für individuell abgestimmtes Fehlverhalten zu setzen, vergiftet Klassenvorstand Dolinar die Seelen seiner Schützlinge. Er trichtert ihnen Literatur ein, die er nach eigenem Gutdünken und subjektivem Bewertungssystem auswählt. Zugleich interessiert er sich aber auch für die oftmals Wohlstandsverwahrlosten und löst so ein Gefühl der Beachtung bei diesen aus, was ihm viele Ehemalige durch lebenslange Verbundenheit danken.

Tonio Schachinger
Tonio Schachinger besuchte das Theresianum, studierte u. a. Sprachkunst an der Angewandten und debütierte 2019 mit seinem Roman „Nicht wie ihr“, der es umgehend auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte. Mit selbigem wurde er 2023 für „Echtzeitalter“ ausgezeichnet.

Foto: Mato Johannik

In seiner privaten Existenz spielt Till das Echtzeit-Strategiespiel „Age of Empires 2“, wovon in seinem Umfeld niemand etwas ahnt. Er beherrscht es so gut, dass er mit 15 Jahren zur Online-Berühmtheit avanciert und der jüngste Top-Ten-Spieler der Welt wird. Zerbrechende und neu entstehende Freundschaften gehören ebenso zum Erwachsenwerden wie eine bereits in ihren Ansätzen nicht unkomplizierte erste Liebesbeziehung.

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Zudem erteilt Tonio Schachinger Auffrischungsunterricht in jüngerer politischer Zeitgeschichte. Ibiza kommt wieder hoch. Auch das, wenngleich ausschließlich in literarischer Hinsicht, ein Vergnügen.

Es gibt Bürger, bei denen man nicht weiß, wann die Eskalation stattfindet, aber sie findet statt.

Gerald Maria Bauer, Dramaturg

Vermitteln und Kürzen

Die Rolle des Fanboys darf nun ein anderer übernehmen, dessen Begeisterung für den Roman sogar so weit ging, dass er ihn dramatisieren wollte. Gerald Maria Bauer schuf eine Bühnenfassung und bringt „Echtzeitalter“ ab 14. Jänner auf die Bühne des Theaters der Jugend.

„Dieser Text schafft es – oft auch nur in wenigen Nebensätzen –, Situationen und Umstände messerscharf zu analysieren und uns in Tills Alltag mit all seinen Problemfeldern und Spannungen eintauchen zu lassen“, erklärt Gerald Maria Bauer.

„Ich habe, einen Tag bevor Tonio Schachinger den Deutschen Buchpreis bekommen hat, bei seinem Verlag Rowohlt angerufen und kundgetan, dass wir diesen Stoff sehr gerne umsetzen würden, weil er an dieses Haus gehört. Und ich habe mich wahnsinnig gefreut, dass wir, nach einer Phase der Entscheidungsfindung, den Zuschlag dafür bekommen haben. Wenn ich mit literarischen Vorlagen arbeite, geht es mir immer auch darum, jungen Menschen Literatur zu vermitteln, weil ich glaube, dass die Berührungspunkte mittlerweile rar geworden sind.“

Außer, die angesprochenen jungen Menschen waren eventuell bei Dolinar in der Klasse, wo sie allerdings, so der berechtigte Einwand Gerald Maria Bauers, einen verhältnismäßig unsinnlichen Zugang zur Literatur erhielten.

Gerald Maria Bauer
Gerald Maria Bauer bewies bereits in den letzten beiden Spielzeiten ein gutes Händchen für dichterische Vorlagen und inszenierte erfolgreich Thomas Bernhards „Ein Kind“ sowie „Im Panoptikum des Franz K.“ nach den Tagebüchern von Franz Kafka. Für beide Stücke erstellte er auch die Bühnenfassungen.

Foto: Mato Johannik

Die Dramatisierungen seien Bearbeitungen von Prosatexten, denen er möglichst wenig hinzufügen wolle, er klärt der Regisseur seine Arbeitsweise. Vielmehr sei er gezwungen, etwas wegzulassen. „Mit dem Kürzen habe ich ein großes Problem. In diesem Fall ist es in mehreren Phasen und Schritten passiert, und es gäbe noch immer 40 Seiten, die wir jederzeit spielen könnten, weil es für sie sogar ein Raumkonzept gäbe. Es ist nicht leicht, man könnte eine Tetralogie daraus machen.“

Tonio Schachinger hätte, die Bühnenfassung betreffend, Mitspracherecht gehabt, entschied sich jedoch dagegen: „Das ist nicht meine Aufgabe, sondern Angelegenheit des Theaters.“ Es käme ihm auch nicht in den Sinn, aus seinen Romanen selbst Stücke zu machen.

„Mein Interesse besteht darin, Prosa zu schreiben. Außerdem möchte ich meine eigenen Texte nicht kürzen.“

Wahnsinniges Wien

Das Theater der Jugend streicht auf seiner Homepage einen Satz aus dem Buch nachdrücklich hervor:„Das Besondere an Wien sind die Wahnsinnigen mit bürgerlicher Fassade.“ Warum? „Weil wir ihn so treffend finden“, erläutert Gerald Maria Bauer. „Dieses Zitat entstammt einer längeren Passage, in der es darum geht, dass es einerseits die kanonisierten Wahnsinnigen gibt, über die wir alle lachen, Waluliso etwa, und dann gibt es jene Bürger, bei denen man nicht weiß, wann die Eskalation stattfindet, aber sie findet statt. Was Tonio Schachinger auch schreibt, ist, dass die Wahnsinnigen anderswo viel mehr auffallen würden als in Wien.“

Einwurf: Dolinar ist doch gebürtiger Kärntner. „Es ist wahrscheinlich so, dass sich Leute, die nach Wien ziehen, hier dann auch dementsprechend wahnsinnig verhalten “, mutmaßt Tonio Schachinger.„Diese Passage ist übrigens auch vom Wien Museum angekauft, eingesprochen und in die Dauerausstellung aufgenommen worden.“

Für die Deutschen ist Dolinar eher eine Fiktion. In Österreich käme niemand auf diese Idee.

Tonio Schachinger, Schriftsteller

Er interpretiere das so, dass die Stadt auch ein wenig mit diesem Image kokettiere. „Wien wird in internationalen Umfragen einerseits jährlich zur lebenswertesten, andererseits aber auch zur unfreundlichsten Stadt gekürt. Das ist ein Spagat, den man uns einmal nachmachen muss“, so Gerald Maria Bauer. Er zitiert einen Witz, den Alexander Van der Bellen einmal erzählt haben soll. „Treffen sich zwei im Kaffeehaus, und der eine sagt: ‚Hast du gehört, Wien ist schon wieder die lebenswerteste Stadt.‘ Darauf der andere: ‚Ich lasse mir mein Wien sicher nicht schlechtreden.‘“

Problematischer Professor

Tonio Schachingers Text hat auch deshalb eine Allgemeingültigkeit, weil jeder in Österreich einen Dolinar kennt. Es überrascht, dass diese Art von Lehrern noch immer nicht ausgestorben ist.

„Ich war im letzten halben Jahr viel in anderen Ländern unterwegs“, erzählt Tonio Schachinger, „und in jedem Land reagieren die Leserinnen und Leser, bedingt durch ihr eigenes Erziehungssystem, anders auf den Text. Während in Österreich die Vertrautheit mit solchen Figuren relativ groß ist, kippt das anderswo oft in die Gegenrichtung.“ Für die Deutschen zum Beispiel sei Dolinar eher eine Fiktion. „Viele denken, das gibt es gar nicht, und sehen es deshalb als satirisch überzeichnet. In Österreich käme niemand auf diese Idee.“

Was, so der Autor, für das österreichische Bildungswesen ebenso traurig sei wie die Tatsache, dass an Österreichs Schulen Literatur einen derart geringen Stellenwert habe.

Gerald Maria Bauer Tonio Schachinger
Leidenschaft: Literatur. Autor Tonio Schachinger bedauert, dass in den Schulen heute kaum noch gelesen wird. Regisseur Gerald Maria Bauer hat es sich zur Aufgabe gemacht, jungen Menschen Literatur zu vermitteln.

Foto: Mato Johannik

Wiedererkennungsempörung

Im Buch fühlen sich viele aus der Lehrerschaft durch einen Text, mit dem Tills Freundin Feli einen Literaturwettbewerb gewinnt, bloßgestellt, weil sie sich darin wiederzuerkennen glauben. Wie ist das eigentlich bei Tonio Schachinger selbst, der mit „Echtzeit“ sogar den Deutschen Buchpreis gewonnen hat? Regen sich ehemalige Mitschüler oder Lehrer über etwaige Ähnlichkeiten mit ihrer Person auf, oder gereicht ihnen dies eher zur Ehre? „Es gibt mehr Leute, die sich wiedererkennen wollen, als Menschen, die sich wiedererkennen müssten. Insofern habe ich mich davon freigemacht, weil es für mich absurd ist, wenn sich jemand in etwas wiedererkennt, womit er gar nichts zu tun hat. Und das passiert eigentlich dauernd.“

Da „Echtzeitalter“ im schulischen Milieu spielt, ist die Besetzungsliste lang. Was prädestiniert Ludwig Wendelin Weißenberger nach Ansicht von Gerald Maria Bauer für die Hauptrolle des Till? „Er ist nicht nur handwerklich-technisch ein fantastischer junger Schauspieler und sehr klug, sondern er ist auch Salzburger und kann sich somit gut in diese spezielle Atmosphäre, die das Stück fordert, ein fühlen.“ Wer wird Dolinar darstellen? „Sebastian Ivan Pass, der schon am Anfang seiner Karriere bei uns am Theater der Jugend gespielt und sich seitdem im gesamten deutschsprachigen Raum seine Meriten verdient hat. Er vermag es, genau diesen kalten Charme und die Lust am Übergriff auf die Bühne zu bringen.“

Achtung, Barbara Karlich!

Auch Österreichs Langzeittalkerin kommt in „Echtzeitalter“ vor. Hat sie Tonio Schachinger eigentlich schon in ihre Literatursendung bei Radio Burgenland eingeladen? „Nein, dabei war das in meiner PR-Arbeit die einzige Sache, wo ich versucht habe, über die Pressefrau von Rowohlt aktiv etwas einzufädeln. Aber Radio Burgenland hat geantwortet, dass man mich in einem anderen Format sehen würde, wo ich natürlich nicht hinwollte. Ich habe die ‚Karlich-Show‘ oft geschaut und finde, dass sie etwas Tolles macht. Sie versucht, den Leuten zu ihrem Recht zu verhelfen, und stellt sie nicht bloß. Das ist eine große Leistung. Ich bin ihr Fan, und umso trauriger war ich, dass sie mich nicht haben wollte.“ Das könnte sich nun ändern.

Hier zu den Spielterminen von Echtzeitalter im Theater der Jugend!