Irgendwann wird es diese Rolle auch in seinen Wikipedia-Eintrag ­schaffen: „Grab­hügel: Raphael von Bargen“ steht im Programmheft zur Josefstadt-Produktion „Der deutsche Mittagstisch“. Eigentlich stimmt der Eintrag nicht ganz, denn der Hügel in der Peymann-Produktion aus dem vergangenen Jahr spielte sich selbst. Raphael von Bargen lag dahinter – unsichtbar für die Zuseher – und musste nichts anderes tun, als einen Besenstiel mit einem Tuch obendrauf zu bewegen. 

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Von Bargen bleibt kurz stehen, Atemluft kondensiert in der Kälte. Er grinst. „Claus Peymann hat mir gesagt: ‚Ich hab da was für dich, dass wird ganz toll. Eine Clownnummer.‘ Ich hab das dann auch ausgiebig  geprobt. Er hat gesagt, das muss ein Schauspieler machen.“ Eine kurze Pause, und dann setzt der Schauspieler nach: „Diese Ernsthaftigkeit von ihm schätze ich, kein Detail ist unwichtig.“

Raphael von Bargen meint das genau so, ganz ohne Ironie. Spielen ist für ihn eine Haltung. Also spielt er auch einmal den Besenstiel-Halter, selbst wenn er kurz zuvor in Tschechows „Kirschgarten“ brillierte oder in Daniel Kehlmanns „Reise der Verlorenen“ oder in Felix Mitterers „Boxer“ oder in den TV-Serien „Die Toten vom Bodensee“ und „Vienna Blood“ oder in einer der unzähligen Rollen, für die ihn das Josefstadt-­Publi­kum so liebt.

Erst spazieren gehen, dann schwimmen

Es ist kurz nach 9 Uhr früh. Spaziergang in der Lobau, dem Auen-­Dschungel, der sich am linken Donauufer zwischen Wien und der Mündung der March erstreckt. Treffpunkt war der Parkplatz des Restaurants „Zum Knusperhaus“ in der Luitpold-Stern-Gasse, an deren Anfang ein Häuschen steht, dessen Besitzer den gesamten Garten mit hunderten Stofftieren verziert hat. Bei Nacht will man da nicht allein vorbeispazieren. Hier in der Au ist Raphael von Bargen oft. Weil es „wenig Momente gibt, in denen ich nur Zeit für mich habe“. Und dann geht er zuerst, nur mit einer kurzen Hose bekleidet, laufen und danach eisschwimmen. Muss man wollen.

Eigentlich hatten wir für diese Story den Titel „Warum spielen Sie eigentlich immer Nazis, Herr von Bargen?“ geplant – denn kaum ein anderer Schauspieler tut das so beklemmend wie er. Dann aber erzählte uns der gebürtige Hamburger von seinem Hobby. Der Plan: erst spazieren gehen, danach schwimmen. Raphael von Bargen hat sein Saxofon mitgebracht. Musiker wollte er einmal werden. Nicht Arzt oder Apotheker, wie es seine Familie erwartet hatte. „Es war bei einem Zirkusfestival, als die Mutter meiner damaligen Freundin mir einen Sack voller Reclam-Hefte vorbeibrachte und sagte: ‚Ich hab dich in Wien an der Schauspielschule angemeldet. Da, lern die Monologe.‘ “ 

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Er gehorchte, bestand und blieb hängen: anfangs im Ensemble des Burgtheaters, darauf am Volkstheater, jetzt seit der Saison 2015/16 am Theater in der Josefstadt. Abrupt bleibt er stehen, ein Schwan fliegt über unsere Köpfe: „Hört mal: Schwäne machen so ein wunderbares Geräusch, wenn sie fliegen, das passt irgendwie gar nicht.“ Raphael Kreon Thystis Hermes Floyd von Bargen-Seitz steht in seinem Taufschein. „Vermutlich eine bekiffte Pink-Floyd-Phase meiner Eltern“ – er grinst kurz. Raphael von Bargen ist 6 Jahre alt, als seine Mutter nach Amerika auswandert. Er ist 14 Jahre, als sein Vater stirbt, und 15 Jahre, als seine Schwester stirbt.

Der emotionale Motor eines Stücks

Wir fragen nicht weiter nach, sondern stellen endlich die Frage, die der Titel hätte werden sollen. Wie ist das jetzt mit den vielen Nazirollen? Oder anders: „Sie spielen in fast allen Stücken der Josefstadt – warum bloß bleiben die Antagonisten derart im Gedächtnis haften?“ Raphael von Bargen stellt seinen Koffer mit dem Saxofon ab. Normalerweise ist der Vater zweier Kinder ein Mann der kurzen Sätze und der noch schnelleren Pointen. Dieses Mal wird es aber ein etwas ­längerer Monolog werden, man merkt, dass er sich darüber auch schon viele Gedanken gemacht hat. 

„Ein Regisseur hat mir einmal gesagt: ‚Es gibt nicht viele Typen, die so als Mann auf die Bühne kommen und denen man das auch zutraut, was sie sagen.‘ Oder wie es meine geschätzte Kollegin Sandra ­Cervik kürzlich formuliert hat, als ich als blinder Vergewaltiger auf sie zugehen musste: ,Na ja, vor dem kriegst halt Schiss.‘ Tja, und oftmals bin ich der emotionale Motor eines Stücks – das sind jene Rollen, mit denen du dich als Zuschauer nicht identifizieren kannst und die nicht im Vordergrund stehen, die aber wichtig sind, weil sie die Last des Abends tragen.“ Er lässt die Verschlüsse seines alten Koffers klicken, packt das Saxofon aus und spielt gegen den Wind an.

Ein Läufer, der gerne Haken schlägt

2015 erschien „Thank you for Bombing“, ein Film der österreichischen Regisseurin Barbara Eder. Raphael von Bargen spielt darin den Kriegsreporter Cal und sorgt für einen darstellerischen Zaubermoment: Cal ist in Afghanistan, und seine Frau teilt ihm via Video-Call mit, dass sie die Scheidung möchte. Gestoppte 57,9 Sekunden sagt Raphael von Bargen alias Cal kein Wort. Die Kamera ist direkt auf sein Gesicht gerichtet, es füllt die Leinwand, und dann beginnt dieses Gesicht eine Geschichte zu erzählen, ohne dass der Mund die akusti­sche Untertitelung dazu liefert. Brillanter und berührender kann man nicht spielen.­ „Der Film bietet andere Möglichkeiten als das Theater, und es entspannt, Szenen wiederholen zu können“, sagt er. 

Im echten Leben ist er ein Läufer, der gern Haken schlägt: Gerade hat er die Masterclass bei Starfotografin Annie Leibovitz absolviert. Philosophie und Psychologie hat er (nicht fertig) studiert. Er baut seine Einrichtung selber, fährt Motorrad und geht apnoetauchen, „weil ich die Stille am Seegrund liebe und dort Teil der Natur werden kann“. Der Lockdown setzt ihm, dem ADHS-Getriebenen, zu. „Natur ist schön und Bäume umarmen sicher auch, aber ich brauche die „Natur“ anderer Menschen – die sind mein wichtigster Input. Ich kriege den leider nicht über Netflix,  Ich brauche analoge Inspiration. Wenn mir diese fehlt, drehe ich durch.“

Wir sind am Mühlwasser angelangt. Ein Schwan schwimmt interessiert auf ihn zu und beobachtet, wie Raphael von Bargen sich bis auf die Badehose auszieht, ins Wasser geht, kurz stehen bleibt und bald darauf untertaucht. Das Thermometer zeigt null Grad. Es dauert, bis er wieder auftaucht. Er war am Grund. Der Stille wegen.

Zur Person: Raphael von Bargen

Er ist einer der wandlungs­fähigsten Schauspieler des Landes, spielt Saxofon, geht apnoetauchen und hat die Masterclass bei Annie ­Leibovitz ­absolviert. Sein Name im Taufschein: Raphael Kreon Thystis ­Hermes Floyd von ­Bargen-Seitz. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

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Alle Infos zum Theater in der Josefstadt finden Sie hier