William Shakespeare – ich lüge nicht, ich habe Gerüchte gehört! – soll in den Giftschrank gesperrt werden. Er ist böse und nicht länger zumutbar. Von „Othello“ wussten wir es ja schon lange. Das Stück sei latent rassistisch, ganz gewiss nicht soll es jemals wieder einem Weißen erlaubt sein, den Protagonisten zu spielen.

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Nun war ich vor einiger Zeit in Marbach am Neckar zu Besuch im fulminanten Deutschen Literaturarchiv – ach, wie will ich schwärmen, das Manuskript von Kafkas „Prozess“ durfte ich in der Hand halten und darin blättern, und Samuel Becketts Briefwechsel mit Siegfried Unseld durfte ich im Original lesen! –, da wurde mir berichtet, dass bei einer literarischen Zusammenkunft gefordert worden war, dass nun auch „Hamlet“ ins Fadenkreuz genommen werde. „Hamlet“ solle von den Bühnen verschwinden. Was? Warum? Ich weiß es nicht, die Gerüchte wussten es auch nicht, jedenfalls nicht so genau. Was wiederum zu „Hamlet“ passt – in dem Stück ist das Gerücht bekanntlich die geheime Hauptfigur. Der Offizier Marcellus spricht es, freilich verschlüsselt, aus: „Something is rotten in the state of Denmark.“ – „Etwas ist faul im Staate Dänemark.“

Der „Hamlet“, so sei konstatiert worden, sei ein narzisstisches Arschloch, ein zu Empathie unfähiger Mann. Er putzt Ophelia, seine Verlobte, auf gehässigste Weise herunter, ersticht ihren Vater, den Kämmerer Polonius, woraufhin sie sich das Leben nimmt. Als er nach England geschickt wird, damit er am Hof aus dem Weg ist, entdeckt er, dass seine Begleiter, die harmlosen, ihn bewundernden jungen Männer Rosenkranz und Güldenstern, einen Brief seines bösen Oheims Claudius bei sich haben, den sie einem Boten übergeben sollen.

Er liest: In Begleitung der Überbringer des Briefes ist ein Dritter, der soll sofort nach Ankunft getötet werden. Wohlgemerkt, Rosenkranz und Güldenstern wissen vom Inhalt des Schreibens nichts. Dennoch macht sich Hamlet den Spaß, den Brief in alter Manier einer Komödie umzuschreiben, nämlich: Die beiden Überbringer sollen sofort nach Ankunft getötet werden. Und sie werden getötet. Rosenkranz und Güldenstern haben Hamlet geliebt, sie wollten sein Bestes, sie sind an der Intrige des Claudius nicht beteiligt, sie sind unschuldig. Hamlet lässt morden aus purem Jux. Schließlich kehrt er nach Helsingør zurück, er trifft seinen Jugendfreund Laertes, den Sohn des Polonius und Bruder der Ophelia. Verständlicherweise ist der Freund sehr wütend auf Hamlet, schließlich ist er schuld am Selbstmord seiner Schwester, und er hat seinen Vater getötet. Hamlet aber wundert sich über den Zorn des Laertes, er kann ihn nicht verstehen.

Ja, Hamlet ist ein Monster, ein eloquentes, charismatisches Monster. Soll er deshalb von den Bühnen verbannt werden?

Wenn die Bösewichte, die Unsympathischen, die menschlichen Monster aus der Literatur verschwinden – was bleibt dann übrig? Ist Mephisto zumutbar? Ist Don Giovanni zumutbar? Ist der Gott des Alten Testaments zumutbar? Von den antiken Tragödien will ich gar nicht sprechen. Weg mit Homer, weg mit Dante, weg mit Grimmelshausen, weg mit Jonathan Swift, weg mit Dostojewski! – Du meine Güte, was rede ich da …

In jeder Komödie wird Menschliches verspottet. Über eine Landschaft lachen wir nicht, auch nicht über eine Blume oder über die Wolken am Himmel oder über Regen und Schnee, wir lachen nur über unseresgleichen.

Michael Köhlmeier, Schriftsteller
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Aber es gibt auch Komödien, also Nicht-Blutrünstiges, an denen einiges faul ist. Ich zögere, das schönste aller Beispiele zu nennen. Vielleicht bringe ich die Literaturpolizisten ja erst auf den Gedanken! Ich meine die Komödie „Wie es euch gefällt“. Ich kann mir vorstellen, dass die Tugendwächter darin fündig werden.

Eines vorweg: Zur Zeit Shakespeares wurden alle Rollen am Theater von Männern gespielt. Die Rosalinde, die Hauptfigur in dem Stück, spielte also ein Mann und ihre Cousine Celia ebenso. Die beiden Freundinnen beschließen, in den Wald zu fliehen, Rosalinde wird am Hof ihres Onkels, des Königs, nicht mehr geduldet. Es ist aber gefährlich, zwei Frauen allein im Wald. Rosalinde schlägt vor, dass sie sich als Mann verkleidet – also: Ein Mann spielt eine Frau, die einen Mann spielt. Im Wald schließlich treffen sie auf Orlando, auch er musste fliehen.

Er ist in Rosalinde verliebt, und Rosalinde ist in Orlando verliebt. Er erkennt seine Geliebte nicht, denn sie hat sich ja als Mann verkleidet. Er schreibt Liebesgedichte und nagelt sie an die Bäume. Das ist rührend, aber, wie er selbst glaubt, wenig wirkungsvoll. Die beiden unterhalten sich, Orlando breitet seinen Kummer aus, er weiß nicht, wie er seiner Geliebten seine Liebe am günstigsten gestehen soll. Rosalinde sagt, sie werde ihm dabei helfen, sie werde es ihm erklären. Tun wir so, sagt sie, als wäre ich deine Rosalinde, dann können wir üben. Und so tun sie – ein Mann spielt eine Frau, die einen Mann spielt, der die Frau spielt, die er eigentlich ist, obwohl er ja in Wahrheit ein Mann ist …

Es ist eine der komischsten Szenen der Theaterliteratur, und die Rosalinde ist ein psychologisches Wunderwerk: durch und durch naiv und zugleich ironisch wie keine andere Figur auf dem Theater.

Könnte die Szene als Spott verstanden werden? Natürlich könnte sie das. Und sicher zu Recht. In jeder Komödie wird Menschliches verspottet. Über eine Landschaft lachen wir nicht, auch nicht über eine Blume oder über die Wolken am Himmel oder über Regen und Schnee, wir lachen nur über unseresgleichen. Wenn wir über ein Hündchen lachen, das Männchen macht, dann lachen wir über das Männchen und nicht über das Hündchen. Henri Bergson, der französische Philosoph, schrieb in seinem berühmten Essay über das Lachen, in allem „durch Komik hervorgerufenen Lachen“ sei ein Auslachen enthalten.

Dass bisher – soviel mir bekannt ist – noch keine Stimme sich erhoben hat, die forderte, man dürfe „Wie es euch gefällt“ nicht mehr spielen, weil darin die Genderfrage verulkt werde, heißt noch nicht, dass die Polizisten gnädiger geworden sind, es könnte auch sein, dass sie nur noch keine Zeit gefunden haben, das Stück gründlich zu lesen. Sie haben ja auch viel zu tun – wenn wir nur bei Shakespeare bleiben: Da warten noch „Macbeth“ und „König Lear“, nicht zu vergessen der aberwitzige „Titus Andronicus“ …

Zur Person: Michael Köhlmeier

Der renommierte ­Schriftsteller mit ­Wohnsitzen in Hohenems und Wien veröffentlichte ­Ende August im Hanser Verlag den Katzenroman  Matou