Zukunftsforscher Harry Gatterer: »Die Zukunft kommt langsam«
In Asien spielen neue Technologien bereits eine große Rolle im Wohnen, sagt der Wiener Zukunftsforscher Harry Gatterer. In Europa aber haben wir dazu noch gewisse Berührungsängste. Wie werden wir in Zukunft wohnen? Was wird sich bis 2050 ändern – und was wird gleich bleiben?
LIVING Sie sind Zukunftsforscher und werden regelmäßig zu den unterschiedlichen Zukunftsmodellen befragt. Haben Sie jemals eine Zukunft prophezeit, die dann nicht eingetreten ist?
HARRY GATTERER Immer wieder! Als -Zukunftsforscher sage ich ja nicht die Zukunft voraus, ich bin kein Prophet und kein Wahrsager, sondern skizziere ein Zukunftsszenario auf Basis der jeweils gegenwärtigen Datenlage. Und wie wir wissen, ändern sich Datenlagen auf oft unvorhersehbare Weise – ob das nun ein Vulkanausbruch in Island, eine weltweite -Coronapandemie oder ein Energieengpass im Zuge des Ukraine-Kriegs ist.
Womit sind Sie jemals besonders falsch gelegen?
Mit meiner Prognose in Bezug auf Smart Being, die ich 2005 gemacht habe.
Was bedeutet Smart Being?
Unter Smart Being versteht man eine sehr fortgeschrittene Form der Digitalisierung und Automatisierung mithilfe von psychologisch gestützter KI. Das heißt: Um ein besonderes Raumlicht zu aktivieren oder bestimmte Musik einzuschalten, braucht es keine Aktion mehr seitens der Bewohner:innen, stattdessen erkennt die künstliche Intelligenz den Wunsch automatisch anhand von Stimmungslage, Körperhaltung, Gesichtsausdruck, Bewegungskultur, Transpiration, Körpertemperatur oder etwa Ausschüttung von Pheromonen.
Das klingt unheimlich!
Das ist Ihre Interpretation. Für mich klingt das spannend und theoretisch technisch schon machbar, aber derzeit noch zu komplex und wirtschaftlich nicht darstellbar. Eine weitere Fehlprognose aus der Sicht der Nullerjahre war sicherlich auch die Verschmelzung von Haus, Möbel und Technologien – etwa sprechende, eigenständig bestellende Kühlschränke oder Sofas und Fauteuils mit eingebauten Lautsprechern.
Warum?
Weil diese Produkte mit völlig unterschiedlichen Innovationszyklen gesegnet sind. Technologien ändern sich unfassbar schnell, Möbel unfassbar langsam. Beides zusammen ist nicht vereinbar.
Woran liegt das, dass man immer schneller und weiter in die Zukunft blickt, als dies tatsächlich realistisch ist?
Sie meinen, dass wir in den 1970er- und 1980er-Jahren von Beamen, ewiger Jugend und fliegenden Skateboards geträumt haben? Weil wir von Trivialliteratur, Science-Fiction-Filmen und medialer Manipulation geprägt sind. Wir haben diese Beschleunigung inhaliert, und das sind ziemlich starke Bilder, gegen die ich als Zukunftsforscher ankämpfen muss. Tatsächlich kommt die Zukunft langsamer, als wir glauben. Zumindest in Europa.
Gibt es denn regionale Unterschiede?
Und wie! Asiatische Gesellschaften haben im Wohnalltag eine mittlerweile sehr organische Beziehung zu neuen Technologien. Staubsaugerroboter gibt es dort schon seit Ewigkeiten, ein Wohnen ohne Hightech ist in Japan und Südkorea unvorstellbar, und sogar in der Alten- und Patientenpflege kommen bereits Kuschel-, Gesprächs- und Medikamentenroboter zum Einsatz. Für uns Europäer:innen mag das befremdlich klingen. In Asien jedoch ist das bereits Abbild einer gesellschaftlichen Gegenwart.
Wir befinden uns heute in einer multiplen Krise, was Klima, Energie, Gesundheit, Grundstücksnot und Umgang mit materiellen Ressourcen betrifft. Inwiefern wirken sich diese Rahmenbedingungen auf das Wohnen aus?
Ein bisschen muss ich Sie enttäuschen. Das Bauen und auch das Wohnen sind im Vergleich zu vielen anderen Disziplinen eine sehr konservative, verhältnismäßig langsame Materie. Ja, wir verändern das Bauen, es gibt einen neuen Zugang zu ökologischen Baustoffen, zu energetischer Nachhaltigkeit, zum Umgang mit energetischen und materiellen Ressourcen. Im Bereich des Wohnens aber sehe ich ehrlich gesagt wenig Veränderung. Auch in Zukunft werden wir in unseren Wohnungen Stühle, Tische, Betten, Schränke und Waschbecken haben. Das sind Einmalerfindungen, die bis heute funktionieren. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern.
Also bleibt alles gleich?
Nein, es wird sich vieles verändern müssen, aber nicht aus freiwilligen Stücken heraus. Wir wissen aus Erfahrung, dass nur ein sehr, sehr kleiner Teil der Bevölkerung bereit ist, mehr Geld auszugeben oder auf einen gewissen Wohnkomfort zu verzichten, um ein gesundes, nachhaltigeres Wohnen zu führen. Damit wird man die Welt nicht verändern können. Es braucht eine systemische Intervention.
Zum Beispiel?
Gesetze, Verbote, Anreize von politischer Seite, aber auch ein entsprechendes Angebot seitens der Bau- und Wohnindustrie. Wenn eines Tages nur noch nachhaltige Möbel, Baustoffe und Technologien angeboten -werden, dann werden wir auch zugreifen – und zugreifen müssen.
Abschlussfrage: Wie werden wir im Jahr 2050 wohnen?
Das ist zu einem großen Teil davon abhängig, wie gut Politik und Industrie bis dahin ihre Hausaufgaben machen werden. Ich bin jedenfalls schon neugierig. Und ich werde jetzt nicht für Sie in die Kristallkugel blicken.
ZUR PERSON
Geboren 1974 in Kufstein, ist aus-gebildeter Einzelhandelskaufmann. Er gründete und leitete einige Jahre lang ein Möbel- und Einrichtungs-geschäft in Tirol. Seit 2002 ist er als Trend- und Zukunftsforscher tätig. 2010 gründete er das Zukunfts-institut Österreich, seit 2013 ist er Leiter des Zukunftsinstituts in Frankfurt am Main und hält Vorträge, berät Unternehmen und kuratiert Change-Prozesse in Organisationen. Demnächst erscheint im Murmann-Verlag sein Buch »Megatrend Research. Die besten Werkzeuge und Methoden, selbst die Zukunft zu gestalten«. zukunftsinstitut.de