Natur als Bestandteil urbaner Architektur
Wohnen im Grünen – das ist mehr als bloß ein ländlicher Luxus. Immer mehr Projekte im städtischen Kontext setzen die Natur bewusst als gestalterischen Baustein ein. Das wirkt sich nicht nur auf den Komfort aus, sondern auch auf das lokale Mikroklima.
Titelbild: »Rote Emma«, Kagran: Wo einst die rotschalige Kartoffel »Rote Emma« angebaut wurde, errichten die beiden Bauträger Migra und BWS-Gruppe nun ein Wohnhaus mit insgesamt 360 Wohnungen – mit Dschungelhöfen und Urban Gardening am Dach. In Gewächshäusern werden, wie damals auf den Kagraner Ackerflächen, Kartoffeln angebaut und verkauft. migra.at, bwsg.at, gernergernerplus.com, awg.at, lok.at
Es war einmal ein Kartoffelbauer mit einem großen, schönen Feld mitten in Kagran. Seine gesamte Karriere widmete er einer wohlschmeckenden, rotschaligen Kartoffelsorte, der sogenannten »Roten Emma«. Mit dem massiven Bevölkerungswachstum Wiens und dem dringenden Bedarf nach neuen Wohnflächen musste der Bauer eines Tages weichen und sein Feld den Kränen und Baggern zur Verfügung stellen. Im April, vor wenigen Wochen also, war Spatenstich. Die beiden Bauträger Migra und die BWS-Gruppe errichten hier einen Wohnbau mit rund 360 Wohnungen. Zur Feier des Tages, wie dies so üblich ist, servierte man diesmal aber nicht Schnitzel und Würstel mit Senf und Kren, sondern – nach einem alten Hausmannsrezept – die »Rote Emma« in Form von Bratkartoffeln und Erdäpfelsalat. »Und auch in Bezug auf die Architektur und das soziale Programm haben wir uns von der ›Roten Emma‹ durch und durch inspirieren lassen«, sagt Julia Haranza, Partnerin und Projektleiterin im Wiener Architekturbüro gerner gerner plus. Sie realisiert das Projekt in Zusammenarbeit mit AllesWirdGut, geplante Fertigstellung 2026. »Einerseits findet man am Dach Gewächshäuser, und auch bei den Pergolen und in den Arkadengängen im Erdgeschoß ist die typische Glashaussilhouette immer wieder zu finden, andererseits haben wir nun die Möglichkeit, am Dach Landwirtschaft zu betreiben und – neben vielen anderen Nutzpflanzen – auch die ›Rote Emma‹ zu ziehen.« Als Betreiber konnte man den Wiener Trägerverein LOK – die Abkürzung steht für »Leben ohne Krankenhaus« – gewinnen. In einem Geschäftslokal zu ebener Erde sollen Saatgut, Jungpflanzen und Ernteprodukte verkauft und unter die Leute gebracht werden.

Gemeindebau, Handelskai: Direkt am Handelskai errichtete die WIGEBA mit querkraft architekten einen Gemeindebau Neu, der auf dem Dach einer zweigeschoßigen, 430 Meter langen Anrainergarage balanciert. Wo früher ein ödes Schotterdach war, erstreckt sich nun ein grüner Dschungel mit Spielplätzen und Fußgänger:innen-steg zur Donau. Die Schlüsselübergabe war 2022. wienholding.at, querkraft.at
© Hertha Hurnaus
»Ildefonso«, Oberlaa: Neben der U1-Endstation Oberlaa errichtet die Wohnbau-vereinigung für Privatangestellte (wbv-gpa) mit POS architekten einen Wohnbau aus CO2-reduziertem und sogar zementfreiem Beton, der in Zusammenarbeit mit der ETH Zürich entwickelt wurde. Aber auch die Freiräume haben es in sich: Das Projekt umfasst Urban Gardening, eine Outdoorbühne und sogar einen Kneipp-Garten. wbv-gpa.at, pos-architecture.com
(c) www.oln.atBekenntnis zu Grün und Natur
Auch sonst spielt die Natur in der »Roten Emma« eine zentrale Rolle. Auf dem Dach können die Bewohner:innen künftig ihre eigenen Hochbeete betreiben, die Fassaden werden zum Teil begrünt, und wenn man entlang des fast zweigeschoßigen Geländesprungs in den Innenhof hinabsteigt, dann wird sich der Spaziergang über Pavillon und Freitreppe bisweilen anfühlen wie eine kleine Dschungeltour. »Die Kagraner Ackerflächen sind verschwunden«, sagt Haranza, »das können wir leider nicht mehr ändern. Aber wir können versuchen, mit dem bewussten Bekenntnis zu Grün und Natur den Geist für die künftig hier lebenden Menschen fortzusetzen und zu kultivieren.« Wirft man einen Blick auf die aktuellen Bauträgerprojekte in Wien und Umgebung, so fällt auf, dass das Thema Grün mehr und mehr Einzug hält – nicht nur in sozialer, ästhetischer, wertsteigernder Weise, sondern zunehmend auch als lokaler Klima- und Temperaturregulator. Bei den sogenannten »Wientalterrassen« in Wien-Hütteldorf, die sogar für den österreichischen Staatspreis Architektur und Nachhaltigkeit 2024 nominiert wurden, gibt es begrünte Innenhöfe, grüne Gemeinschaftsterrassen mit Blick ins Wiental und auf den Lainzer Tiergarten sowie intensiv begrünte, schattenspendende Fassaden voller Weinreben, Blauregen, Geißblätter und Pfeifenwinden, die in einigen Jahren eine Höhe von 15 bis 18 Metern erreicht haben werden. Und das Thema Grün ist noch lange nicht ausgeschöpft. Mal werden Garagendächer begrünt und zu kleinen Nachbarschaftsparkanlagen ausgebaut. Im Wohnprojekt »-Ildefonso« sind ein kleines Outdoor-Tribünentheater für die Jüngeren und ein Kneipp-Gang für die Älteren geplant. Und in Bruckneudorf soll der alte Getreidesilo auf dem Areal der ehemaligen Erbsenschälfabrik zu einem Wohnhaus ausgebaut werden – mit geschoßübergreifenden, begrünten Balkonen und Terrassen und einer atemberaubenden Aussicht auf Leithagebirge und Donauauen.

»Wientalterrassen«, Hütteldorf: Neben der ÖBB-Westbahnstrecke hat die wbv-gpa die »Wientalterrassen« mit 295 geförderten Mietwohnungen und 22 Wohngemeinschaften errichtet. Die Fassaden sind begrünt, von der begrünten Dachterrasse hat man Ausblick bis zum Lainzer Tiergarten. Das Projekt wurde für den österreichischen Staatspreis Architektur und Nachhaltigkeit 2024 nominiert. wbv-gpa.at, berger-parkkinen.com, cehl.at
(c) Lukas Schaller
Oberes Hausfeld: Lange Zeit gab es hier bloß eine Geisterhaltestelle, doch schon bald wird die neue U2-Station am Oberen Hausfeld in Betrieb genommen. In unmittelbarer Nähe entsteht ein autofreies Stadtquartier mit rund 3.800 Wohnungen – so auch dieses grüne Projekt von Superblock Architekten für das Österreichisches Volkswohnungswerk (ÖVW). Die Freiraumarchitektur stammt von Cara Lo. oevw.at, superblock.at
(c) Superblock