Architekturporträt: »Grüner Waldmeister« Stefano Boeri
Der Mailänder Architekt Stefano Boeri hat nicht nur den »Bosco Verticale« erfunden, sondern gilt in seinem ganzen Schaffen als grüner Pionier und Befürworter einer Koexistenz von Mensch und Natur. Viele weitere senkrechte Waldhäuser sind bereits in Planung.
Der eine Turm ist 80 Meter hoch, der andere misst sogar 110 Meter und reicht hinauf bis in die 27. Etage. Rundherum sind beide Wohn-hochhäuser, die sich als überdimensionale Pflanzenkübel zur Verfügung stellen, mit 800 Bäumen und mehr als 20.000 Sträuchern zugewachsen. Der 2014 fertiggestellte »Bosco Verticale« in Porta Nuova im Norden -Mailands hat weltweit Geschichte geschrieben – und hat dessen Erbauer Stefano Boeri auf einen Schlag in den architektonischen Olymp hochgeschleudert. Das Projekt wurde mit dem Urban Habitat Award, dem International High-Rise Award und dem RIBA Award for International Excellence ausgezeichnet.
»Der ›Bosco Verticale‹ ist ein Prototyp für das Zusammenleben von Mensch und Natur«, sagt Boeri. »Natürlich war das Projekt in der Gesamtkonzeption sehr aufwendig, weil so ein Waldhochhaus noch nie zuvor realisiert wurde. Viele Details wie etwa Windlasten, Balkonbelastungen und die Überlebensstrategie der Pflanzen in großer Höhe mussten erst getestet werden. Und auch die laufende Pflege der Flora ist alles andere als einfach.« Um die Bäume zu beschneiden, müssen sich zweimal pro Jahr professionelle Kletter:innen, die gleichzeitig ausgebildete Gärtner:innen sind, von oben abseilen.
Globaler Förster
»Doch ich finde, der hohe Aufwand hat sich gelohnt«, erzählt der 68-Jährige. »Nicht nur hat sich in den zehn Jahren seit der Fertigstellung der Immobilienwert des Gebäudes mehr als verdoppelt. Dieses Projekt hat auch weltweit Nachahmer:innen gefunden und ist ein Zeichen dafür, dass es geht.« Seine vertikalen Wälder, die Boeri selbst seitdem in Treviso, Utrecht und Eindhoven umgesetzt und in Paris, Madrid, Lausanne, Antwerpen, -Bratislava, Tirana, Kairo, Dubai, Liuzhou, Guizhou, Nanjing und Huanggang konzipiert hat, lassen sich aufgrund der Vorfertigung und der bereits geleisteten Forschungsarbeit heute um einen ursprünglichen Bruchteil der Kosten realisieren.
»Mittlerweile verfügen wir über viel Erfahrung und wissen ganz gut, wie sich Pflanzen in einem bestimmten Kontext verhalten«, sagt der Architekt. »Aber -natürlich gehört zu dieser Pionierarbeit, die wir leisten, auch eine gewisse Fehlerkultur und Fehlertoleranz dazu, die ich in unserem Kulturkreis ehrlich gesagt ein wenig ver-misse. In unserem Beruf und vor allem in
der Immobilienwirtschaft ist Irren ein absolutes Tabu.«
Was tun? »Wir müssen endlich kapieren, dass Fehler unvermeidlich sind und dass sie eine wichtige Ressource für unser Leben sind. Und wir müssen lernen, dass unser Job als Architekt:in nicht mit der Fertigstellung des Bauwerks endet. Unsere Verantwortung reicht Jahrzehnte, ja vielleicht sogar Jahr-hunderte in die Zukunft. Dessen sind sich die wenigsten bewusst. Sie bauen und bauen und bauen und bauen.« Ohne grüne Materie baut Boeri schon lange nicht mehr. Bäume, Sträucher und Stauden sind für ihn ein unverzichtbarer Baustein, um die Zukunft in den Griff zu kriegen. Wie ernst er es meint und wie groß seine grüne Besessenheit ist, zeigt sich in seinem 2022 erschienenen Buch. Es trägt den Titel »Green Obsession. Trees Towards Cities, Humans Towards Forests«.