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Arty Weekend in Tunis

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Noch gilt sie als Geheimtipp, aber vermutlich nicht mehr lange. Die Metropole an der Mittelmeerküste ist Dreh- und Angelpunkt der Kulturen und hat in der letzten Dekade eine vitale junge Kunstszene hervor-gebracht. Ein Besuch in Tunis, der Stadt der Träume.

Badeurlaub in Hammamet, Ruinen besichtigen in Karthago. Tunesien ist vor allem als Destination einer gewohnten Art von Tourismus bekannt. Doch neben Sand und Steinen haben Tunesien und seine Hauptstadt Tunis noch mehr zu bieten. Ein Land am Schnittpunkt der Kulturen und Kontinente, in dem sich Europa, Afrika und die arabische Welt begegnen. Ein Land, das nicht nur eine Vergangenheit hat, sondern auch eine Gegenwart und Zukunft.

Hier begann 2011 der Arabische Frühling, und dieser Umbruch öffnete trotz aller bestehenden politischen Instabilitäten das Tor in eine offenere Gesellschaft. Eine Gelegenheit, die die junge Generation mit beiden Händen ergriff. Auch zeitgenössische Kunst und Kultur erwachten plötzlich wieder zum Leben. Neue Art Spaces und Galerien eröffneten, Hybridformen mit Musik, Mode und Design florieren. Festivals wie Dream City bündeln diese Vitalität in mitreißenden Events. Die Geschichte und Geografie des Landes ist Inspiration für eine breite Palette künstlerischen Ausdrucks. Vierzehn Jahre nach dem Arabischen Frühling hat die Kunstwelt Tunis als Geheimtipp entdeckt, als Tor zum globalen Süden, der Art Space der MENA-Region (Middle East and North Africa). Eine Einladung, die man nicht ausschlagen sollte. Baden kann man ja danach immer noch.

Freitag

In einem Land mit tiefen historischen Wurzeln beginnt alles mit der Geschichte. So beginnen auch wir unsere Reise in die Gegenwart inmitten der Zeugen der Vergangenheit. Das Bardo-Museum im gleichnamigen Stadtteil ist das wichtigste archäologische Museum Nordafrikas nach jenem in Kairo und so etwas wie der Heilige Gral der tunesischen Kultur. Die Sammlung umfasst die ganze Spannweite vom Altertum bis zum Beginn der Neuzeit.
Beeindruckend sind hier unter anderem die römischen Mosaike, die oft wirken, als
seien sie erst gestern entstanden.

KREATIVER AUFBRUCH

Von hier aus in die Innenstadt und mitten ins Hier und Jetzt. Der interdisziplinäre Kunstraum Central trägt diese Mitte schon im Namen und ist Teil der Kulturinitiative Le15, die auch mehrere junge Start-ups beherbergt. Die 2018 von Emna ben Yedder gegründete Galerie Central ergänzt diese wirtschaftlich-kreative Aufbruchstimmung mit manchmal kritischen, manchmal spielerischen Kunstpositionen. Kein schlechter Ort, um die Dynamik des jungen Tunis zu spüren.

Etwas älter, aber mit 19 Jahren immer noch jung: Das Kulturzentrum L’Art Rue in der Medina von Tunis, gegründet von den Tänzerinnen und Choreografinnen Selma und Sofiane Ouissi. Ein wahrer spartenübergreifender Hochleistungs-Inkubator, der als Ausrichter des Kunstfestivals Dream City eine enorm wichtige Rolle in der Szene spielt und dadurch auch als Schaufenster dieser Szene für die inter­nationale Welt fungiert. Das nächste Dream City Festival im Oktober 2025 sollte man sich auf jeden Fall im Kalender vermerken.

Bardo National Museum
Dauerausstellung

Central
Permanent wechselnde Ausstelungen

L’Art Rue
Dream City Festival, 3.–19.Oktober 2025

Tor zur Vergangenheit
Das Bardo-Museum, dessen archäologischer Reichtum nur von Kairo übertroffen wird.

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Ornamentale Pracht
Das Bardo-Museum macht die Reise in die Vergangenheit zum Raumerlebnis.

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Fabel-Wesen
Die Mosaike aus römischer Zeit gehören zu den kostbarsten Schätzen des Bardo-Museums.

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Betrachtungs-Weise
Farbenfrohe Ausstellung in der Galerie Central.

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Licht-Hof
Einer der vielen traditionellen Bauten in der Medina von Tunis beherbergt das Kulturzentrum L’Art Rue.

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Samstag

Auch heute starten wir im großen Maßstab. Die Cité de la Culture, die nach mehr­facher Verzögerung 2018 auf dem Areal der ehemaligen Messe eröffnet wurde, ist ein gewichtig-bombastisches Statement des tunesischen Kultusministeriums. Was nicht heißen soll, dass hier ausschließlich staats­tragende Kultur gezeigt wird. Im Gegenteil, das Nationalmuseum für zeitgenössische Kunst MACAM ist das erste Museum der Gegenwartskunst nach internationalen Standards und umfasst mehrere Räume für Wechselausstellungen und für Events und Performances.

STATE OF THE ART

Ein Großteil der heutigen Kunstwelt in Tunis wird jedoch nicht staatlich, sondern privat finanziert. So auch La Boite, ein White Cube auf dem Areal des Unternehmens Kilani Groupe in der Nähe des Flughafens. Tatsächlich sind die Mitarbeiter:innen der Firma eine Zielgruppe der Galerie, aber auch für urlaubende Besucher:innen lohnt sich die kleine Exkursion. Die Sammlerin Fatma Kilani, die La Boite 2018 gründete, hat ein dichtes Netzwerk an Kooperationen und Beteiligungen an Festivals über Tunis hinaus aufgebaut.

An einem ähnlich ungewöhnlichen Ort ist seit 2024 die Galerie Selma Feriani beheimatet. Die gebürtige Tunesierin war 2013 aus London in ihre Heimat zurückgekehrt und gründete zunächst eine Galerie neben jener ihrer Mutter (siehe Interview). Dies war so erfolgreich, dass sie im nächsten Schritt einen kompletten Neubau wagte, einer der wenigen State-of-the-art-Kunstorte in Nordafrika. Ein Zeichen dafür, dass sich die junge Szene in Tunis professionell etabliert hat und auf dauerhafte Präsenz setzt.

MACAM: National Museum of Contemporary Art
Dauerausstellung

La Boite
A Certain Distance bis 29. 8. 2025

Selma Feriani
Asma Ben Aissa bis 30. 8. 2025

Staatlich und stattlich
Das MACAM in der Cité de la Culture ist die erste offizielle Adresse für Gegenwartskunst in Tunis.

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Blatt-Werk
Ausstellung in der Galerie von Selma Feriani, die die junge Generation tunesischer Künstler:innen vertritt.

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Junge Positionen
Die 1992 geborene Asma Ben Aissa gehört zu den vielversprechenden Talenten der tunesischen Kunstszene.

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Nah und Fern
»A Certain Distance« von Aymen Mbarki in der Galerie La Boite.

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Schrift-Bilder
Kalligrafische Kunst in der Sammlung des MACAM.

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Zarte Gesten
Ausstellung von Asma Ben Aissa in der Galerie von Selma Feriani.

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Sonntag

Eine Reise zu den Highlights der heutigen Kunstszene ist auch eine Erkundungsfahrt durch die Stadt selbst. Während viele Events und Galerien sich im Stadtzentrum und der Medina konzentrieren, wagen andere den Schritt an ungewöhnliche Orte. Der experimentelle Art Space B7L9, gegründet von der Kamel Lazaar Foundation for Art and Culture, ging dezidiert im Arbeiterviertel Bhar Lazreg vor Anker. Dort bietet man Kunst mit freiem Eintritt, mit dem Ziel, das Quartier kulturell und sozial zu bereichern. 

KUNST UND KOMMUNIKATION

Weit mehr als eine Galerie ist auch das 32Bis, ein vielgesichtiges Kunstzentrum in der ehemaligen Philips-Konzernzentrale aus den 1950er-Jahren. Kulturvermittlung, Multi­media-Bibliothek, Ateliers für heimische und internationale Stipendiat:innen, Ausstellungen und Performances. Wie viele der jungen Kunstorte wurde auch 32Bis von einer Frau geprägt und geleitet: Camille Lévy Sarfati etablierte unter anderem eine Vortragsreihe, in der junge tunesische Künstler:innen von ihrem Leben und Schaffen erzählen. Kunst trifft Kommunikationstalent.

Das trifft auch auf die Kulturjournalistin Alya Hamza zu, die die Galerien-Szene im Quartier La Masa um einen neuen Mosaikstein bereicherte: die Galerie TGM. Gleich in ihrer ersten Ausstellung knüpfte sie an die legendäre École de Tunis der 1940er- und 1950er-Jahre an, eine Gruppe tunesischer und französischer Künstler:innen, die das Land quasi in die Moderne katapultierten. So bleibt die Gegenwart hier in Tunis immer verwurzelt in den fruchtbaren Böden der Vergangenheit. Und die Kunst darf neue, bunte Blüten treiben.

B7L9 Art Centre
Laufend neue Ausstellungen

32bis
Laufend neue Ausstellungen

TGM Gallery
Laufend neue Ausstellungen

Open House
Die Galerie 32Bis ist in den ehemaligen Büroräumen von Philips zu Hause.

© Nicolas Fauqué

Strahlend weiß
Die TGM Gallery im Stadtviertel La Masa.

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Natur-Geschichten
Ausstellung »Aisha« von Yumna Al-Arash im B7L9.

© Kamel Lazaar Foundation

Unübersehbar
Wild gemustert steht das Kunstzentrum B7L9 im Stadtviertel Bhar Lazreg.

© Kamel Lazaar Foundation

Spurensuche
Für »Aisha« begab sich die Künstlerin auf eine dreijährige Wanderung ins Atlasgebirge.

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Durch-Blicke
Die TGM Gallery versteht sich als Brücke zwischen den Künstler:innen-Generationen Tunesiens.

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Erschienen in
LIVING 06/2025

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Maik Novotny
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