Es gibt Menschen, die malen sich sogenannte Worst-Case-Szenarien aus, um sich dann davon überraschen zu lassen, dass es „eh gar nicht so schlimm war“. Es gibt aber auch Menschen, die Best-Case-Szenarien auf A4-Zettel schreiben, diese anschließend aufhängen und sich dann darüber freuen, dass all die Dinge, die zunächst vielleicht utopisch erschienen, tatsächlich eingetreten sind. Lisa Kerlin, Dramaturgin und Leiterin des Volkstheaters in den Bezirken, gehört definitiv zur letzteren Sorte. Und zwar nicht nur deshalb, weil das in der österreichischen Hauptstadt äußerst beliebte Füllwort „eh“ (noch) nicht Teil ihres Wortschatzes ist.

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„Als wir vor zwei Jahren als Team hier angetreten sind, haben wir immer wieder gehört, dass es einfach nicht schlimmer werden soll. Um aus diesem negativen Gefühl rauszukommen, haben wir all die Dinge, die wir uns für das Volkstheater in den Bezirken wünschen, aufgeschrieben.

Auch jene, die uns damals total gewagt vorkamen. Deshalb gab es auch Zettel, auf denen der Nestroy-Preis und die ausverkaufte VHS Floridsdorf standen“, erzählt Lisa Kerlin lachend. Das von ihr angezettelte Umdenken trug vermutlich auch dazu bei, dass sich während ihrer Leitung beide Wünsche erfüllten.

„Dass der Nestroy 2024 in der Kategorie ‚Beste Schauspielerin‘ an Julia Edtmeier für ihre Rolle in ‚Amadeus‘ ging, war definitiv ein Highlight. Bei der Verleihung habe ich geschrien wie ein Hooligan“, so Kerlin. Die Euphorie ist ihr auch Monate später noch anzumerken.

Ein Knaller zum Schluss

Wir sitzen im Café Liebling im Volkstheater. Es ist Zeit für ein Resümee, bevor das Volkstheater in den Bezirken mit Beginn der Intendanz von Jan Philipp Gloger neu aufgestellt wird. Abgesehen von den beiden bereits erwähnten Höhepunkten, gab es jedoch noch viele weitere Dinge, die gelungen sind, sagt Lisa Kerlin.

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Sie nimmt einen Schluck von ihrem Kaffee und legt los: „Wir haben es geschafft, Gemeinschaft herzustellen. Außerdem haben wir für alle Beteiligten gute Arbeitsbedingungen geschaffen, sodass sich alle gesehen und wertgeschätzt gefühlt haben. Es ist uns auch gelungen, mehr Publikum anzuziehen, es gab mehr Abendkassa, und ‚Petterson und Findus‘ ist durch die Decke gegangen. Zudem haben wir schöne Rückmeldungen bekommen – sowohl von neuen, jüngeren Zuschauer*innen wie auch von unseren Abonnent*innen. Das zeigt wiederum, dass es uns gelungen ist, mit unseren Produktionen eine große Bandbreite abzubilden.“

Lisa Kerlin
Zwei Jahre lang leitete Lisa Kerlin das Volkstheater in den Bezirken.

Foto: Hilde van Mas

Eine Sache blieb bislang jedoch noch unerfüllt: Es gab noch keine ausverkaufte Premiere.„Aber vielleicht klappt es ja mit ‚Romeo und Julia‘“, hält Lisa Kerlin mit großer Zuversicht fest. Wie auch schon „Amadeus“ ist die Inszenierung eine Koproduktion mit dem Bronski & Grünberg Theater. „Das Publikum erwartet ein schnelles, lustiges Stück mit einem etwas anderen Take auf diese große Liebesgeschichte. Bronski & Grünberg at its best, würde ich sagen“, so Kerlin, die sich schon sehr lange gewünscht hat, einmal den Shakespeare-Klassiker zu machen.

„Außerdem wollten wir zum Abschluss der Spielzeit noch einen richtigen Knaller haben“, fügt sie hinzu. Vor der Dernière am 26. Mai – und damit dem Ende ihrer letzten Tour als Leiterin des Volkstheaters in den Bezirken – graut ihr allerdings schon ein bisschen. „Wir sind am Praterstern. Vielleicht gehen wir dann einfach alle gemeinsam Achterbahn fahren.“

Theater ist Teamsport

Die eine oder andere Situation, in der plötzlich alles kopfstand oder man das Gefühl hatte, gleich aus der Kurve zu fliegen, gab es auch bei den Touren durch die insgesamt 15 in ganz Wien verteilten Spielstätten. „Natürlich waren auch Momente dabei, die schwierig und kompliziert waren. Und es gab Phasen, in denen wir todeserschöpft waren. Auch wenn das jetzt vielleicht kitschig klingt: Ich würde es trotzdem immer wiedermachen. Was natürlich auch mit den Leuten zu tun hat, mit denen ich das machen durfte. Und auch damit, dass ich wirklich an dieses – auch politisch unglaublich wichtige – Projekt glaube“, sagt Lisa Kerlin. Nach einer kurzen Pause setzt sie mit ruhiger Stimme nach: „Spannend, wie sehr mich das gerade berührt.“

Dass es trotz all der Loopings und engen Kurven immer wieder gelang, die einzelnen Arbeiten auf den Boden – und auf die Bühne – zu bringen, lag auch daran, dass Lisa Kerlin selbst die Bodenhaftung nie verloren hat. Ganz im Gegenteil. Eine Sache – wie beispielsweise das Volkstheater in den Bezirken – in Angriff zu nehmen, bedeutet für die Bezirke-Leiterin und Dramaturgin immer auch, tatsächlich hinzu greifen, mitanzupacken und die Dinge in die Hand zu nehmen.

„Theater ist immer Teamsport“, sagt Kerlin, die sich der Floskelhaftigkeit dieser Aussage bewusst ist, es aber trotzdem genau so meint. Das heißt in ihrem Fall auch, vor Ort Nähe zum Publikum herzustellen. Vor (fast) allen Vorstellungen, die bisher zu sehen waren, begrüßte sie das Publikum persönlich – eine Tradition, die sie von Karl Schuster, der das Volkstheater in den Bezirken von 1973 bis 1993 geleitet hatte, übernommen hat. „Wenn ich mir ein Gemeinschaftsgefühl wünsche, muss ich auch selbst Teil der Gemeinschaft sein.“

Lisa Kerlin
„Wenn ich mir ein Gemeinschaftsgefühl wünsche, muss ich auch selbst Teil der Gemeinschaft sein.“ Lisa Kerlin

Foto: Hilde van Mas

Die Frage, inwiefern sich das Verhältnis zum Publikum in dieser Zeit verändert habe, möchte sie mit einem Beispiel beantworten: „Vergangenen Dienstag in Simmering meinte Pia, unsere Regie- und Dramaturgie-Mitarbeiterin, plötzlich, dass wir noch nicht beginnen können, weil dieses nette Ehepaar, das immer kommt, noch nicht da sei. Am nächsten Tag haben wir sie in der Längenfeldgasse getroffen, wo sie uns erklärt haben, dass sie es wegen einer Chorprobe nicht nach Simmering geschafft hätten.“

Auch das anfängliche Credo, dass sie bei allen Produktionen den Raum und die Mittel mitthematisieren möchte, hat sich bestätigt, so Kerlin. „Ich finde es wichtig, sich stets darüber im Klaren zu sein, wo man sich gerade befindet.Theater ist immer eine politische Kunst, weil es ein paar Personen gibt, die sprechen, und viele Menschen, die schweigen. Außer- dem hat sich für mich bestätigt, dass es nicht viel braucht, um gutes Theater zu machen – nur Lust, Konzentration und keine Angst vor Arbeit.“

Auch über sich selbst habe sie in den vergangenen zwei Jahren einiges gelernt – unter anderem, was Leitung für sie bedeutet: „ein gutes Arbeitsumfeld für ganz unterschiedliche Menschen zu schaffen und auch das eigene Verhalten zu reflektieren.“

Lisa Kerlin
"Es hat sich für mich bestätigt, dass es nicht viel braucht, um gutes Theater zu machen – nur Lust, Konzentration und keine Angst vor Arbeit.“

Foto: Hilde van Mas

Ein neuer Stadtplan

„Es ist kein Geheimnis, dass ich das gerne noch länger gemacht hätte, aber so ist nun einmal das Spiel. Für das Projekt wünsche ich mir noch mehr Sichtbarkeit. Und dass es ein selbstverständlicher Teil des Wiener Kulturlebens ist“, hält Lisa Kerlin mit der für sie typischen Klarheit fest.

Klar ist für sie auch, dass sie in Wien bleiben möchte. „Ich werde Abonnentin – und zwar in Erlaa, weil das meine Lieblingsspielstätte ist. Man muss dort total kreativ sein, weil viele Dinge nicht so funktionieren wie in den anderen Veranstaltungssälen. Für mich verkörpert dieser Saal die Bezirke-Idee total.“

Allerdings müsse sie ihren inneren Wien-Stadtplan neu zeichnen, merkt sie nach einer kurzen Pause an. „Das Volkstheater, wo ich ja vor der Übernahme der Bezirke-Leitung schon gearbeitet hatte, war nun fünf Jahre lang mein Stadtzentrum – mein Stephansdom gewissermaßen. Nun muss ein neuer Stadtplan her.“

Spätestens jetzt ist sicher: Der Abschied geht Lisa Kerlin auch deshalb so nahe, weil es der Abschied von einem Projekt ist, bei dem es um Nähe geht – das als „kultureller Nahversorger“ nicht mehr wegzudenken ist.

Wir verabschieden uns mit dem Wissen, dass wir einander spätestens bei der Premiere von „Romeo und Julia“ wieder begegnen werden. Und die ist dann hoffentlich ausverkauft, damit auch der letzte A4-Zettel von der Wand gerissen werden kann.