BÜHNE: In deiner Antwort auf meine Interviewanfrage meintest du, dass du gerade für ein Theaterprojekt in Sarajevo recherchierst und arbeitest. Darfst du darüber schon etwas verraten?

Anzeige
Anzeige

Alireza Daryanavard: Es ist eigentlich ein zweiteiliges Stück. Der erste Teil heißt „Stadt unter Belagerung – Teil 1 Sarajevo“ und feiert am 21. Oktober im Theater am Werk (ehemaliges Werk X) Premiere. In dem Stück werden der Alltag und die Lebensumstände der Bevölkerung während der Belagerungszeit von Sarajevo thematisiert, die als längste Belagerung des 20. Jahrhunderts bekannt ist. Ich komme gerade aus Sarajevo, weil ich immer versuche, meine Texte vor Ort zu schreiben. Ich habe hier mit verschiedenen Menschen unterschiedlicher Backgrounds über die Zeit der Belagerung gesprochen und teilweise Videos aufgenommen. Das zweite Stück wird sich wiederum auf Sebrenica beziehen.

Mit „Chronik der Revolution“, deinem ersten Stück im Rahmen von Worx am Berliner Ensemble, bist du sehr nah dran an den noch nicht langen zurückliegenden, immer noch brodelnden Geschehnissen im Iran. Was sind die größten Herausforderungen, wenn man sich im Rahmen einer Theaterarbeit mit einem solch aktuellen Thema beschäftigt?

Das bedeutet, dass mein Theater quasi tagesaktuell sein muss. Das Stück thematisiert die Chronik der gesamten Widerstandsbewegungen, die seit 1979 im Iran stattfinden und die ja jeden einzelnen Tag weitergehen. Die Herausforderungen bei Themen, die sich auf eine akute Konfliktzone beziehen, ist immer die Positionierung des Autors, also in dem Fall meine eigene Haltung. Das kenne ich schon von der Arbeit an meinem Stück „Blutiger Sommer“. Es gibt nicht nur eine Erzählposition, es gibt für jedes Geschehnis verschiedene Meinungen und Perspektiven, insbesondere in Bezug auf alles, was die iranische Geschichte betrifft. In dem Stück wird nun über 44 Jahre Unterdrückung und Gewalt gesprochen, wobei ich einen großen Teil davon ja selbst miterleben musste. Ich hoffe, damit einen Beitrag zur Sichtbarkeit des Widerstands gegen die iranische Regierung leisten zu können, und möchte zudem dazu aufrufen, die Widerstandsbewegungen auch international zu unterstützen.  

Ist es eine Gratwanderung, politisch aktuelle, aber auch historische Themen aufzugreifen, ohne in eine vielleicht zu belehrende Richtung abzurutschen? Welche theatralen Mittel helfen dir dabei?

Musik und szenische Momente wie Dialoge, aber auch Stille und die Arbeit mit Licht sind dabei die wichtigsten Mittel für mich. Ich finde allerdings, dass Theater auch lehrreich sein darf. Ein Stück am Berliner Ensemble über die Widerstandsgeschichte im Iran kann ja ruhig auch Content transportieren und wachrütteln, weil es sonst kaum Auseinandersetzung damit gibt. Zudem gibt es auch in Europa eine aktive Propagandamaschinerie, die sich für das iranische Regime ausspricht. Wenn ich hier darüber sprechen kann, habe ich keine Sorge belehrend zu werden. Mir ist immer wichtig, Themen auf die Bühne zu bringen, über die kaum geredet wird und deren Relevanz und Brisanz nicht vergessen werden dürfen – auch weil sie uns alle betreffen. Unsere letzte Produktion „Stop femi(ni)zide“, die Mahsa Ghafari und ich gemeinsam mit unserem Kollektiv umgesetzt haben, hat im öffentlichen Raum stattgefunden, da sind viele Passant*innen zufällig mit dem Thema konfrontiert worden.

Anzeige
Anzeige

Muss Theater immer eine politische Komponente haben?

Darüber streiten wir auch immer unter Kolleg*innen (lacht).

Über welches Theater reden wir? Ein Theaterhaus, das gleichzeitig ein Kulturbetrieb ist, muss politisch sein, da ein Kulturbetrieb eine gesellschaftliche Verantwortung hat. Aber was heißt das? Müssen dann dort nur politische Stücke gespielt werden? Nein. Nur wenn man politische Stücke zeigt, ist man ein politisches Theater? Auch nicht.

Ich verstehe, wenn manche sagen, dass Theater für sie nur Unterhaltung ist, ich verstehe auch, wenn das Publikum nicht immer Bock auf etwas inhaltlich Tiefes hat, aber meiner Meinung nach, können Theater längst nicht mehr nur Orte sein, wo man hingeht, um Theater anzuschauen, es sollten die Räumlichkeiten und Ressourcen des Theaters viel breiter gedacht werden. Alleine in Österreich, wo ich die Theaterlandschaft als eine sehr konservative wahrnehme, muss wirklich viel mehr darüber diskutiert werden, was eigentlich die Rolle des Theaters ist in unserer aktuellen Weltlage ist.

Was ging dir durch den Kopf, als du erfahren hast, dass du ab der kommenden Spielzeit für ein Jahr am Berliner Ensemble arbeiten wirst?

Ich habe mich natürlich sehr gefreut. Ich habe in meiner Jugend sehr viel Brecht gelesen und als ich Deutsch gelernt habe, waren „An die Nachgeborenen“ und „Kälbermarsch“ von Brecht die ersten deutschen Texte, die ich für die Bühne auswendig gelernt habe. Ich finde die Ziele des Worx-Programms auch sehr wichtig, sie haben mich motiviert, mich zu bewerben.

Freust du dich auf Berlin als Stadt und als neuen Arbeitsort?

Als Arbeitsort mag ich Berlin sehr. Ich mag auch das Haus und das Team total gerne und fühle ich mich dort sehr willkommen. Nach dem Gespräch mit Oliver Reese war ich total begeistert davon, wie sich das Haus selbst reflektiert und sich jeden Tag neu auf den Weg macht und weiterentwickelt. Die ersten Gespräche mit den Projektleiterinnen von Worx haben meine Motivation noch mehr in die Höhe getrieben, da es mir wichtig ist, neben meiner Tätigkeit als Regisseur am Berliner Ensemble auch zu kuratieren. Das war zwar neu für sie, trotzdem haben sie mein Vorhaben von Anfang an total unterstützt. Mein erstes Projekt am BE, bevor ich dann im Dezember inszeniere, wird eine kuratierte Veranstaltungsreihe sein, die sich „Widerstandsbühne“ nennt.

Die erste Ausgabe thematisiert den Widerstand gegen die „Festung Europa“ und startet mit einer zweitätigen Sammelaktion in Kooperation mit SOS Balkanroute, Seebrücke und Balkanbrücke für Menschen auf der Flucht, die sich außerhalb der EU-Außengrenzen befinden und betroffen sind von gewaltsamer, unmenschlicher EU-Politik.

Alireza Daryanavard
Im Juni 2023 rief das Theaterkollektiv Hybrid zur Aktion gegen systemische Morde auf und versammelte im Zuge dessen einen 70-köpfigen Sprechchor unter der Leitung von Özlem Bulut, der durch fünf Wiener Bezirke zog.

Foto: Rezzarte

Viele Stadt- und Staatstheater betonen derzeit, dass es ihnen wichtig sei, Schwellen abzubauen und Stücke auf den Spielplan zu setzen, bei denen sich möglichst alle Mitglieder einer Gesellschaft gemeint fühlen. Wo siehst du diesbezüglich noch Lücken?

Ja, das ist überall endlich Thema. Es gibt viele Theater, die Diversität betonen, jedoch ist es noch ein weiter Weg. Da müssen wir genau hinschauen, wie breit deren Vision ist und ob sie wirklich ein Abbild einer pluralen Gesellschaft werden wollen. Oft liegt der Fokus nur auf dem Publikum, neues Stammpublikum wird aber nicht erreicht, wenn das Programm immer gleich bleibt. Es reicht nicht, wenn ein Haus ein oder zwei Stücke pro Spielzeit ändert, ebenso wenig wird ein Theater breit für die Stadtgesellschaft geöffnet, wenn zwei „diverse“ Schauspieler *innen im Ensemble spielen oder wenn ein Iraner da inszeniert (lacht).

Ich kann sagen, dass ich im deutschsprachigen Raum – bis auf ganz wenige spannende Ansätze – zur Zeit kein Theater kenne, welches nachhaltig und mit einem langjährigen Plan ernsthafte Veränderungen vorhat. Das Personal und die Produktionsbedingungen gilt es ebenso zu hinterfragen wie das Marketing. Viele wollen nach einem Jahr Ergebnisse sehen und wenn das nicht gelingt, stoppen sie die Öffnung und sagen, dass sie es versucht haben, es aber einfach nicht geklappt hat. Das alles braucht Zeit und Theater haben auch gar keine andere Wahl, als ihre Verantwortung und Relevanz neu zu definieren. Und glauben Sie mir, dass ich genau darüber schon mit vielen Intendant*innen gesprochen habe.

Ein faire und gesunde Arbeitsatmosphäre steht für mich immer im Vordergrund. Wenn ich das selbst nicht in mein Team bringen kann, dann hat meine politische Aussage, egal wie wichtig das jeweilige Thema ist, keinen Wert mehr.

Alirzea Daryanavard

Wie könnte es gelingen, dass sich in den Theaterhäusern hier in Wien, aber auch in Deutschland, möglichst alle Menschen gemeint, gesehen und gehört fühlen?

Das wichtigste ist das Personal der Häuser. Da braucht es ein Abbild der realen Vielfalt unserer Bevölkerungsstruktur. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Mehrheit der Menschen in unsere Branche weiße, privilegierte Menschen sind, vor allem in den großen Häusern. Wenn es darum geht, neue Zuschauer*innen zu erreichen, brauchen wir auch neue Menschen im Kernteam, nicht nur an der Abendgarderobe oder an der Bar, sondern in Leitungspositionen – als Indendant*innen, als Dramaturg*innen, als Kostüm-Leiter*innen und Bühnen-Leiter*innen. Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind, gelingt es bestimmt besser, einen Spielplan zu erstellen, der die Mehrheit der Gesellschaft anspricht. Was ich hier sage, ist keine neue Erfindung, es sind viele großartige Theatermenschen am Start, die nur darauf warten, in Häuser einzusteigen, allerdings werden die wirklichen Machtpositionen immer noch von wenigen, zumeist weißen, älteren Männern besetzt, die dann von einem Haus zum anderen wechseln und die nicht wirklich darauf bedacht sind, die Türen zu öffnen.  

In vielen deiner Arbeiten spielt die Zusammenarbeit mit von Diskriminierung betroffenen Personen und Zeitzeug*innen eine große Rolle. Warum ist dir das wichtig?

Weil es deren wahre Geschichten sind, sind sie auch die Protagonist*innen und Held*innen meiner Geschichten. Ich finde, wir haben im Theater genug repräsentiert, wir haben oft über oder für andere Menschen gesprochen, ohne sie jemals zu fragen, ob sie das wollen. Ich wurde selbst oft diskriminiert, damit ist klar, dass ich in meiner Arbeit nicht dieselbe Herangehensweise an Themen habe, wie Leute, die nie systematische Diskriminierung am Theater erlebt haben. Dazu kann ich noch sagen, dass durch die Machtstrukturen und die Kommerzialisierung der Häuser, der Theatersektor zu den heftigsten Branchen gehört, was sexuellen Missbrauch, Machtmissbrauch oder Diskriminierung betrifft.

Wann bist du zum ersten Mal mit Theater in Berührung gekommen?

Sie werden bestimmt lachen, aber ich kann mich nicht wirklich daran erinnern. Ab meinem 12. Lebensjahr habe ich dann jedenfalls selbst auf der Bühne gestanden.

Gab es ein bestimmtes Erlebnis oder Ereignis, bei dem dir klar geworden ist, dass du Theater machen möchtest?

Ich glaube, irgendwann hat mein Englischlehrer in der Schule, der selbst auch Dramatiker war, eines von seinen selbst geschriebenen Theaterstücken gelesen und ein paar Monate später, als ich das Stück gesehen habe, war ich so begeistert, wie dieser Text lebendig wurde, dass ich begonnen habe, selbst Stücke zu schreiben.

Gab es Momente in deiner Theaterkarriere, in denen du nicht mehr daran geglaubt hast, dass Theater etwas verändern kann?

Wirklich verloren habe ich den Glauben daran nie, aber oft denke ich, dass das Theater wie wir es üblicherweise erleben, mir zu wenig ist. Das liegt auch an den Themen, an denen ich arbeite. Wir haben bei der Produktion „Asyl Tribunal – Klage gegen die Republik“ öffentlich die Republik Österreich angeklagt, da sie illegal in Bezug auf das Asylrecht agiert. Das Projekt war sehr erfolgreich, wir haben viele Leute erreicht, es war zu Beginn des Kriegs gegen die Ukraine. Ich hatte gleichzeitig auch eine Online-Veranstaltungsreihe mit Theaterschaffenden in der Ukraine kuratiert, die über ihre Situation vor Ort berichteten. Danach konnte ich mir nicht vorstellen, wie ich mich auf andere Theaterstücke fokussieren soll, habe deshalb zwei Anfragen abgesagt und erstmal einige Zeit im Erstaufnahmezentrum für Menschen aus der Ukraine gearbeitet.

Was ist dir als Regisseur in der Zusammenarbeit mit den Spieler*innen, aber auch mit den Gewerken wichtig?

Ein faire und gesunde Arbeitsatmosphäre steht für mich immer im Vordergrund. Wenn ich das selbst nicht in mein Team bringen kann, dann hat meine politische Aussage, egal wie wichtig das jeweilige Thema ist, keinen Wert mehr. Veränderung fängt schließlich immer bei einem selbst an.

Zur Person: Alireza Daryanavard

Der Performancekünstler und Regisseur wurde im Iran geboren und begann im Alter von 12 Jahren als Schauspieler zu arbeiten. Neben Hauptrollen in Kino und TV war er auch als Fernseh- und Radiomoderator tätig. Als es ihm offiziell nicht mehr erlaubt war, als Schauspieler tätig zu sein, gründete er ein Untergrundtheater in seiner Herkunftsstadt Buschehr, bis die Situation lebensgefährlich wurde und er schließlich fliehen musste. Seine Flucht führte ihn 2014 nach Österreich, wo er seitdem in Wien als Schauspieler, Musiker und Regisseur lebt.