Erinnern Sie sich? Unser Kulturminister sagte, bezugnehmend auf ­Corona und das Theater, bald werden die Schauspieler und die Regisseure wieder „­trainieren“ können. Man hat ihn dafür ausgelacht. Dass der da ja keine Ahnung hätte. Dass der da meint, Theater­spielen sei mehr oder weniger das Gleiche wie Fußballspielen oder so. Theaterleute „probieren“, trainieren tun die anderen. Ich sehe das nicht so, ich habe nicht mit­gelacht.

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Körper zum Einsatz bringen

Was tut ein Schauspieler, wenn er probiert? Er bekommt – meistens – einen Text in die Hand, den hat – meistens – ein Dichter geschrieben, und diesen Text soll er auf der Bühne vor Publikum ­„lebendig machen“. Das ist eine ­Floskel, eine Phrase, deshalb in Anführungs­zeichen. Wörtlich genommen aber ist die Wendung wahr. Der Schauspieler soll den Text einer Person in den Mund legen und auch noch den übrigen Körper zum Einsatz bringen – außer es handelt sich um ein Hörspiel.

Dieser Prozess geschieht im Gespräch mit dem Regisseur – wenn es denn ein Gespräch ist. Erst probiert der Schauspieler, einen Satz so zu sagen, dann anders, dann wieder ­anders und so weiter. Einmal lässt er Körpersprache folgen, einmal sprechen erst die Hände, die Gesichtsmuskeln, die Hüfte, und dann folgt der Text, oder beides geschieht gleichzeitig.

Das Ziel ist immer, dem Text gerecht zu werden, der Person gerecht zu werden, die der Text ja bloß beschreibt. Die Kluft zwischen dem leblosen, mit Buchstaben übersäten Papier und dem sprichwörtlichen Fleisch-und-Blut soll ver­gessen werden. Wenn das Publikum meint, der da vorn sagt nur den Text auf, ist selber aber niemand, dann stimmt etwas nicht. Oder doch? Siehe Bertolt Brecht und sein episches Theater – in diesem Fall muss etwas anderes probiert werden. Aber probiert werden muss. Auf dass am Ende ein Mensch auf der Bühne steht und die vorgegebenen Sätze sagt und das Publikum ihm glaubt, auch wenn es die Person, die diese Sätze sagt, hasst, gerade dann; ganz besonders dann, wenn das Publikum nicht den Schauspieler sprechen hören soll, sondern den Autor und seine Botschaft – siehe Agitproptheater.

Gefühl donnern und Emotionen zurücknehmen

Immer muss viel probiert werden. Einmal muss Emotion zurückgenommen werden, damit sie an der richtigen Stelle richtig wirkt, an anderer Stelle dürfen die Gefühle donnern. Lessing sagte, wenn auf dem Theater eine Figur spricht, muss sie für sich recht haben, sonst ist sie aus Pappe. Und was ist mit Faust, nur zum Beispiel? Er braucht den Teufel, um ein Mädchen aufzureißen – ein verklemmter Typ, meine Güte, und übergriffig dazu! Und auf dessen Schultern soll ein großes Welttheater geladen werden? Man muss viel probieren, bis diese Figur heute nicht lächerlich wirkt. Aber es geht. Es geht! Mit Probieren.

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Was hingegen tut der Mensch, wenn er trainiert? Und zu welchem Ende und Zweck trainiert er? Antwort: um zu bestehen. Nicht, damit eine Figur auf dem Theater bestehe. Sondern damit der Mensch bestehe. Auf dem Sportplatz. Aber vor allem im Leben.

Aristoteles war der Ansicht, letztlich sei alle Kunst Nach­ahmung der Natur."

Michael Köhlmeier

Mit Aristoteles denken wir bis heute darüber nach, warum eigentlich erzählt wird, warum erzählend, spielend, tanzend, singend nachgeahmt wird. Mimesis ist ein Begriff, der seit seiner ­Poetik die Diskussionen zu Theater und Litera­tur bestimmt. Aristoteles war der Ansicht, letztlich sei alle Kunst Nach­ahmung der Natur.

Heinrich von Kleist hat zu dieser These eine Erzählung geschrieben: Über das Marionettentheater. Darin beobachten zwei Männer in einem Bad einen Jüngling, der sich einen Spreißel aus dem Fuß zieht. Er tut das mit solch anmutigen Bewegungen, dass die Herren entzückt sind und ihn bitten, es noch einmal zu tun. Und siehe, er kann es nicht. Jetzt, da er weiß, was er tut, kann er es nicht mehr. Die Anmut der Marionette, folgert Kleist, liegt darin, dass sie nicht weiß, was sie tut. Sie ist pure Natur. Sie braucht die Natur nicht nachzuahmen. Der Jüngling müsste sehr viel probieren, bis er wieder seine erste „Meisterschaft“ erreichte.

Erzählen als Schaffen von Präze­denz­fällen

Nicht nur Schauspieler ahmen nach. Schauspieler ahmen das ­Nachahmen nach. Jeder von uns erzählt, jeder von uns ahmt nach. Alles Erzählen ist ein Sich-Orientieren an ­Präzedenzfällen. Und zugleich ein Schaffen von Präze­denz­fällen. In Peter Handkes Stück ­Kaspar sagt der Protagonist: „Ich möcht ein solcher werden wie einmal ein an­drer gewesen ist.“ Handke hatte die historische ­Figur des Kaspar Hauser als ­Vorbild, der aus dem Verlies völliger Beziehungs­losigkeit, völliger Einmaligkeit heraus­getreten ist und nun sein möchte wie – wie wer? – wie alle anderen.

Jeder möchte originell sein, un­verwechselbar, eine Einmaligkeit; zugleich gibt es kaum einen entsetzlicheren Gedanken als den, der Erste zu sein, der eine bestimmte Handlung setzt oder der als Erster und Einziger etwas erleidet."

Dabei: Jeder möchte originell sein, un­verwechselbar, eine Einmaligkeit; zugleich gibt es kaum einen entsetzlicheren Gedanken als den, der Erste zu sein, der eine bestimmte Handlung setzt oder der als Erster und Einziger etwas erleidet. Einzigartigkeit ist gleichbedeutend mit Orientierungslosigkeit, mit Verloren­sein. Wir können uns nur an anderen orientieren. Die griechische Mythologie mit ihren unüberschaubar vielen ­Geschichten und Figuren war – auch – ein Katalog von Präzedenzfällen. Jede Geschichte erzählt uns von jemandem, der dieses und jenes getan hat, dem dieses und jenes zugestoßen ist. Wenn wir erzählen, ahmen wir Tun und Leiden nach. Wir ahmen nach, um in ähnlichen ­Situationen zu bestehen. Wir trainieren.

Michael Köhlmeier

Schriftsteller, 70 Jahre 
Letzte Veröffentlichungen: „Bruder und Schwester Lenobel“, Roman, Hanser Verlag, „Die Märchen“, Hanser Verlag

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