Österreichische Lösung. Jürgen Rose sitzt in der Kantine der Wiener Staatsoper, und obwohl er völlig unprätentiös agiert, fühlt es sich an, als wohnte man einer Audienz bei. Sein reiches Leben auf wenigen Seiten zu beschreiben wäre ohnehin zum Scheitern verurteilt, weshalb wir uns mit Schlaglichtern auf diese unermüdlich agierende Künstlerpersönlichkeit begnügen müssen.

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Vor 38 Jahren hat er zuletzt an einer Neuproduktion für die Wiener Staatsoper gearbeitet. „Damals auch mit John Neumeier, für sein Ballett ‚Ein Sommernachtstraum‘. Mein allererstes Stück an der Staatsoper habe ich schon 1970 ausgestattet, ‚Don Carlos‘ in der Regie von Otto Schenk.“ Eine Begegnung, die zur bis heute andauernden Lebensfreundschaft wurde und in viele weitere Kooperationen mündete.

Später sollte er „Eugen Onegin“ mit Regisseur Rudolf Noelte im Haus am Ring realisieren. „Rudolf Gamsjäger war Intendant, Robert Jungbluth Bundestheater-Generalsekretär. Ich hatte alle Bühnenbildunterlagen und die Kostümentwürfe für die Nebenrollen und den Chor bereits geliefert, mit Ausnahme jener für die Solisten, weil Noelte wegen eigener Vertragsschwierigkeiten mit der Oper die Gespräche darüber mit mir verweigerte. An einem Freitag bekam ich ein Telegramm von Jungbluth, in dem stand, dass ich, würde ich nicht bis Montag alle Entwürfe abgegeben haben, für die gesamte Produktion regresspflichtig sei.“

Jürgen Rose erlitt einen Zusammenbruch, wurde krankgeschrieben, schickte seinen Assistenten mit den übers Wochenende noch schnell gemalten Solofigurinen nach Wien und kam in ein Sanatorium. Noelte schmiss nach zwei Probenwochen hin, und Rose wurde mitgeteilt, dass ein anderer Regisseur die Inszenierung übernommen hätte. Monate später in Wien, wo er sich zu Vorbesprechungen für „Die Meistersinger“ aufhielt, sah Rose, dass „Eugen Onegin“ noch auf dem Spielplan stand – mit seinem Bühnenbild und seinen Kostümen.

Er versuchte, dem Intendanten nahezulegen, dass ihm doch zumindest ein Teil der vertraglich fixierten Gage zustünde. „Gamsjäger, dem die Situation peinlich war, meinte daraufhin, Burschi, ich geb dir für ‚Die Meistersinger‘ 100.000 Schilling drauf, und du wohnst ab jetzt auf unsere Kosten im Hotel Sacher.“

Eine typisch österreichische Problembewältigungsstrategie, die für Jürgen Rose zumindest so viel Charme besaß, dass er noch viele Jahre auf Verträgen bestand, die das Sacher inkludierten.

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Ich hatte das enorme Glück, als junger Mensch gefördert zu werden. Aber ich habe auch wie ein Tier gearbeitet.

Jürgen Rose, Bühnen- und Kostümbildner

Weltbühne statt Bauernhof

„Ich bin ein Bauernsohn aus Sachsen-Anhalt und hätte als ältester Sohn den Hof übernehmen sollen. Das hat mich aber nicht interessiert, viel lieber habe ich gezeichnet, mich mit Kleidern, Hüten und schönen Stoffen verkleidet und Rollen gespielt. Mit elf Jahren bin ich auf die berühmte Odenwaldschule gekommen, wo es wunderbare Lehrer gab und ich alles, was mir wichtig war, einbringen konnte.“

Er interessierte sich für Naturwissenschaften, liebte aber besonders das Theaterspielen und entwarf für Schulproduktionen immer auch die Bühnenbilder und Kostüme. Durch eine glückliche Fügung gelangte er direkt nach dem Abitur an das von Gustav Rudolf Sellner geleitete Theater Darmstadt, arbeitete als Bühnenbild-Volontär, wurde aber schon bald als Schauspieler entdeckt und für kleinere Rollen besetzt. „Als ich zur Bundeswehr eingezogen werden sollte, was ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, war die einzige Möglichkeit, dem Schrecken zu entgehen, nach Berlin zu übersiedeln, wo man durch das Viermächteabkommen gesetzlich befreit war. Dort begann ich, an der Kunstakademie zu studieren.“ Das war etwas Handwerkliches und somit auch für den Herrn Papa nachvollziehbar. Parallel und heimlich nahm er Schauspielunterricht bei Marlise Ludwig – Wedekinds berühmter Lulu –, die auch die jungen Filmschauspielerinnen Cornelia Froboess und Vera Tschechowa darstellerisch unterwies.

Jürgen Rose
Aufmerksame Atmosphäre. Ketevan Papava, Erste Solotänzerin des Wiener Staatsballetts, bei der Anprobe in den Werkstätten von Art for Art. Jürgen Rose entgeht auch nicht das kleinste Detail. „Meine Augen funktionieren sehr gut“, konstatiert er trockenen Humors.

Foto: Andreas Jakwerth

Schließlich wurde Jürgen Rose von Kurt Hübner ans Theater Ulm engagiert, wo damals Talente wie Peter Zadek, Peter Palitzsch und Elisabeth Orth wirkten – „und zwar für jeweils 350 Mark als Bühnenbildner und Schauspieler“. Fast die Gage des ersten Tenors.

Ein Kuriosum, das ihm so schnell keiner nachmachen sollte – und der Beginn einer großen Karriere. „Ich habe bis auf eine einzige Produktion immer Kostüm- und Bühnenbild gemacht, wobei ich gestehen muss, dass mir die Kostüme wahrscheinlich am wichtigsten waren. Das hängt vielleicht damit zusammen, dass ich selber Schauspieler werden wollte. Ein Kostüm kann den Charakter einer Figur maßgeblich mitbestimmen, finde ich.“

Die Liebe zum Theater stamme übrigens von seiner Großmutter.„Sie war ein Leben lang Bäuerin und kam aus ihrem Dorf kaum raus, hatte aber einen Theaterfimmel. Sie hat mir mit acht Jahren Wagners ‚Tannhäuser‘ und mit neun ‚Der fliegende Holländer‘ im Dessauer Opernhaus gezeigt. Beide Stücke habe ich später in Bayreuth ausgestattet. Bei einem dieser Besuche sah ich im Theaterfoyer das detailliert gebaute Bühnenbildmodell vom zweiten Akt der ‚Meistersinger‘ und war fasziniert von dieser Illusion. Wahrscheinlich gab mir dieses Erlebnis den entscheidenden Impuls.“ In Ulm ereilte ihn eines Tages der Anruf von August Everding aus München, der ihm ein Stück an den Kammerspielen anbot. Rose fuhr hin und blieb für mehr als vierzig Jahre.

Jürgen Rose
Jürgen Rose bei der Arbeit.

Foto: Andreas Jakwerth

Lebensmensch Don Carlos

In Stuttgart, wo Jürgen Rose für Bühnenbild und Kostüme von Shakespeares „Wie es euch gefällt“ gebucht war, lernte er 1961 zufällig den jungen südafrikanischen Choreografen John Cranko kennen „Er war sehr interessiert an meiner Arbeit, ging am nächsten Tag zur Intendanz und meinte, er wolle mich für ‚Romeo und Julia‘ haben. Dort hieß es aber nur: Rose, wer soll das sein?“

Doch Cranko setzte sich durch und engagierte nicht nur den Anfänger Jürgen Rose für Bühne und Kostüme, sondern auch die unbekannte brasilianische Tänzerin Marcia Haydée – gegen erbitterte Widerstände der Verantwortungsriege – als Julia.

„Ich war ein Bauernjunge und sah in John Cranko einen weltgewandten Menschen. Er besaß Bücher und Schallplatten, in seiner Wohnung standen kleine griechische Figuren im Regal, an den Fenstern hingen kostbare, reich bestickte Vorhänge aus Tunis, an der Wand ein Picasso. Ich saugte alles auf. Meine ersten Entwurfsskizzen der dreizehn Bühnenbilder für ‚Romeo und Julia‘ gefielen ihm spontan. Ich machte mich an die technischen Ausarbeitungen mit genauem Maßstab, Lineal, Zirkel und Fluchtpunkt. Nach einigen Tagen kam Cranko zu mir ins Atelier, schaute sich die Zeichnungen an, nahm sie in die Hand und zerriss sie vor meinen Augen. Ich war geschockt. Doch Cranko meinte nur: 'Ich will deinen Strich sehen.' Später habe ich verstanden, was er damit meinte, und auch von meinen Studenten immer wieder deren Strich eingefordert.“ Das eigene künstlerische Talent sollte im Vordergrund stehen, die Individualität des Bühnenbildners.

Jürgen Rose
Seide, Spitze, Taft. Farbnuancen müssen stimmen, Konturen exakt sitzen, Originale angepasst werden.

Foto: Andreas Jakwerth

1962 kam „Romeo und Julia“ heraus und wurde ein enormer Erfolg. „Für die folgenden zwölf Jahre haben John Cranko und ich die meisten Stücke gemeinsam realisiert. Das letzte Ballett war ‚Spuren‘ nach Mahlers 10. Sinfonie.“ Cranko bat Rose 1973, ihn auf ein Gastspiel nach New York zu begleiten. "Doch ich habe gerade mit John Neumeier in München ‚Der Nussknacker‘ vorbereitet und abgesagt. ‚Schade, ich hätte dich gerne dabeigehabt‘ war der letzte Satz, den ich von ihm gehört habe. Er ist auf dem Rückflug von den USA gestorben und fehlt mir noch immer.“
Mit Marcia Haydée, ebenfalls 86 Jahre alt, ist Jürgen Rose in regem Kontakt. „Wir telefonieren häufig. Sie ist bis heute als Choreografin aktiv.“
John Neumeier, dessen 1978 in Stuttgart uraufgeführtes Ballett „Die Kameliendame“ nun in das Repertoire der Wiener Staatsoper übernommen wird, lernte Jürgen Rose übrigens auch über Cranko kennen. „John war ein junger Tänzer und wurde in der zweiten Spielzeit als Paris für ‚Romeo und Julia‘ engagiert.“ Als er später zum gefeierten Choreografen und schließlich zum Ballettdirektor in Hamburg reifte, kam es zu einer Reihe von engen Kooperationen: zum Beispiel „Dornröschen“, „Illusionen – wie Schwanensee“,„Ein Sommernachtstraum“,„Peer Gynt“ oder „A Cinderella Story“.

Zur Person: Jürgen Rose

studierte an der Berliner Hochschule für Bildende Kunst und privat Schauspiel bei Marlise Ludwig. Er arbeitete als Bühnen- und Kostümbildner für Schauspiel, Oper, Operette und Ballett an den renommiertesten Häusern der Welt sowie bei den Salzburger und Bayreuther Festspielen. Darüber hinaus inszenierte er sieben Opern und war Professor für Bühnenbild in Stuttgart. Im Jahr 2015 widmete das Deutsche Theatermuseum in München seiner Arbeit eine große Ausstellung. Mit John Neumeiers „Die Kameliendame“ an der Wiener Staatsoper möchte Jürgen Rose seine mehr als sechzig Jahre dauernde Karriere beenden.

Keine Zeit für Demos

„Ich hatte das enorme Glück, als junger Mensch gefördert zu werden. Aber ich habe auch wie ein Tier gearbeitet. Die Siebziger waren eine sehr politische Zeit, es gab viele Demonstrationen. Heute ist mir bewusst, dass ich nur ein einziges Mal gemeinsam mit Peter Stein auf einer Demo war.“

Er habe ein Stück nach dem anderen gemacht. „Insgesamt waren es etwa 300 Produktionen für Schauspiel, Oper und Ballett mit vielen Bühnenbildern. Daneben mit ‚La Traviata‘, ‚Die Zauberflöte‘, ‚Don Carlo‘, ‚Das schlaue Füchslein‘, ‚Hänsel und Gretel‘, ‚Norma‘ und ‚Werther‘ noch sieben eigene Regiearbeiten. Nach der großen Ausstellung, die 2015 im Deutschen Theatermuseum München gezeigt wurde, habe ich aus Dank alle noch existierenden Entwurfsunterlagen dem Museum vermacht. Das hatte zur Folge, dass ich meine eigenen Entwürfe nun ganz formell ausleihen muss, wenn ich sie brauche“, erzählt er mit selbstironischem Flackern in den Augen.

Warum hat er, dessen Kostüme so vielen Schauspieler*innen, Sänger*innen und Tänzer*innen dabei geholfen haben, ihre Figuren zu finden, eigentlich nie Mode gemacht? „Der Wunsch wurde öfter an mich herangetragen, aber es war mir immer zu wenig. Ich habe mich zwar sehr von Mode inspirieren lassen, aber ich brauche dann doch den Charakter der Person. Das braune Kleid, das Marguerite im letzten Akt von ‚Die Kameliendame‘ trägt, entstand nach einem Bild von Dior, das ich in einer Modezeitschrift gesehen habe. Natürlich ist man stets von vielen Seiten beeinflusst.“

Jürgen Rose
„Die Kostüme sollen Charaktere widerspiegeln und nicht nur meine Ästhetik befriedigen“, versteht sich Jürgen Rose als künstlerischer Dienstleister.

Foto: Andreas Jakwerth

150 Kostüme und mehrere Bühnenbilder bereitet Jürgen Rose für „Die Kameliendame“ an der Wiener Staatsoper vor. Was kommt künstlerisch danach?

„Nichts. Ich finde gar keine Assistenten mehr, die auch zeichnen, fast alle arbeiten mit Collagen. John Neumeier hat ‚Die Kameliendame‘ den Ballettcompagnien in Seoul und Peking versprochen. Aber ich fahre nicht mehr mit.“

Zu den Spielterminen von Die Kameliendame in der Wiener Staatsoper!