Konfusionskorrekturen. „Ist das Ihre erste Zusammenarbeit?“, will der Interviewer zum Einstieg wissen und löst damit eine Slapstick-Diskussion aus. „Nein, die dritte“, antwortet Murat Seven, um postwendend von Nurkan Erpulat berichtigt zu werden. „Es ist die vierte“, und – nach kurzem Nachdenken – „oder doch schon die fünfte?“. Eine Einigung ist nicht in Sicht, hingegen sind sich beide sicher, dass die Arbeit an der Volksoper für beide das Hausdebüt bedeutet. Murat Seven spielt überhaupt zum ersten Mal in Wien, Nurkan Erpulat hat bereits 2012 am Volkstheater Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ inszeniert und wurde 2020 für „Dunkel lockende Welt“ im Werk X sogar mit einem Nestroy bedacht.

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„Meine Erfahrungen mit österreichischen Theatern sind sehr positiv“, resümiert er, „ich durfte hier tolle, spielwütige Schauspieler kennenlernen, die, im Vergleich zu Deutschland, aber auch viel Lebensfreude ausstrahlen. Man verbringt abseits der Proben mehr Zeit miteinander, geht am Abend auch mal ein Bier trinken und lernt einander als Menschen kennen.“ In seiner Wahlheimat Berlin gehe es diesbezüglich weitaus preußischer zu.

Fantasie über das Fremde

„Die Entführung aus dem Serail“ ist seine zweite Opernregie. „Mit der Neuinszenierung durch Nurkan Erpulat soll an der Volksoper ein neuer, authentischer und vor allem unmittelbarer Blick auf dieses Werk geworfen werden“, heißt es in der Vorankündigung. Was ist damit gemeint?

„Darauf bin ich auch gespannt“, so ein oft und gerne lachender Regisseur. „Ich habe Lotte de Beer darum gebeten, mir eine Türkenoper zu geben, denn dazu habe ich ein Wörtchen zu sagen. Für mich ist Kunst immer Reibung mit der Wirklichkeit und keine Märchenstunde. Mich interessieren gestrige und heutige Sichtweisen auf den Orient. Mozart war nie in Kleinasien, diese Oper entspringt seiner Fantasie darüber, und diese Fantasie weiterzuspinnen ist mein Anliegen. Genauso lustvoll, wie Mozart diese Oper geschrieben hat, möchte ich mich damit auseinandersetzen.“

Ich habe mich jahrelang fragen lassen müssen, ob Shakespeare überhaupt etwas für mich sei. Von Leuten, die auch keine Engländer waren.

Nurkan Erpulat, Regisseur

Der Komponist sei durchaus differenziert an die Sache herangegangen und habe Stereotypen zu vermeiden versucht. „Sein Auftrag war eigentlich, für das 100-Jahr-Jubiläum der gescheiterten zweiten Türkenbelagerung eine Oper zu schreiben. Er hat daraus eine ganz andere Geschichte gemacht, weil er immer getan hat, was er wollte.“ Er fühle sich Mozart sehr nah, dieser sei kein nationales Kulturgut, das nur den Österreichern gehöre. „Mozart ist mein Freund. Er jongliert auch in dieser Oper mit allen Möglichkeiten, ist witzig und klug. Und Humor kommt bekanntlich von Intelligenz.“

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In einer aktuellen Auseinandersetzung mit „Die Entführung aus dem Serail“ könne man gar nicht ohne die Mann-Frau-Thematik auskommen, auch die Sexualität dürfe nicht ausgeklammert werden. Nicht zuletzt geht es auch um den Begriff der Toleranz – in für westliche Denkmuster ungewohnter Weise jener des Orients gegenüber dem Okzident.

„Europäer, am Hof eines türkischen Herrschers zwangsweise festgehalten, erleben eine Großmut von viel höherer Moral, als sie sie aus ihren eigenen europäischen Ländern kennen“, schreibt der Mozartforscher Volkmar Braunbehrens über Bassa Selim. Sieht Murat Seven seine Figur auch so? „Aus einem Reflex heraus, würde ich ja sagen. Aber das Zitat ist natürlich eine politische Aussage, denn es geht darum, ob die Toleranz des Orients gegenüber dem Okzident umgekehrt auch so stattfindet. Ich finde es schwierig, zu behaupten, jenseits des Bosporus lebende Menschen seien toleranter. Das mag vielleicht für osmanische Herrscher, die an Literatur, Musik, Kunst und Wissenschaft interessiert waren, gegolten haben. Aber wo sieht man die aktive Förderung dieser Werte denn heute noch?“ Für die damalige Zeit sei Bassa Selim sicherlich ein außergewöhnlicher, vergebender Herrscher gewesen, daraus eine allgemeingültige Aussage abzuleiten sei indes heikel.

Entführung Serail Volksoper

Foto: Stefan Fürtbauer

Zerrbild der Realität

Ein Berliner mit kurdischen Wurzeln – Murat Seven – und ein nach eigenem Bekunden „Türkei-Türke“, der für sich gerne den Begriff Ausländer verwendet – Nurkan Erpulat –, realisieren gemeinsam in Wien eine Mozart-Oper. Das hätte es noch vor kurzem nicht gegeben. Hat sich in puncto Diversität an den Theatern also tatsächlich vieles zum Besseren gewendet, oder ist dies bloß eine Wunschbehauptung? „Es gibt in den letzten Jahren eine Bemühung, die in die richtige Richtung geht“, so Nurkan Erpulat, „dennoch sind wir weit entfernt von der Realität. In Deutschland haben fast 30 Prozent der Menschen einen Migrationshintergrund, eine Zahl, die weder auf der Bühne noch hinter der Bühne und schon gar nicht in den Leitungsgremien adäquat abgebildet wird. Ja, es ist vieles eingeleitet worden, was man in 60 Jahren Arbeitsmigration vermasselt hat, aber wir sind noch lange nicht am Ziel.“

Er selber war 2003 der erste türkische Regiestudent an der Hochschule Ernst Busch und habe sich jahrelang fragen lassen müssen, ob Shakespeare überhaupt etwas für ihn sei – „von Leuten, die auch keine Engländer waren, ihn aber selbstverständlich für sich reklamiert haben“.

Für Murat Seven war es lange Zeit sogar denkunmöglich, dass man von Kunst leben könne, weil es diesbezüglich einfach keine Vorbilder gab. „Das Verständnis dafür, dass Menschen, die auf den ersten Blick nicht deutsch aussehen, aber in Deutschland geboren sind, ganz normal am Leben teilhaben wollen, ist erst sehr spät entwickelt worden.“

In der ZDF-Serie „Fritzie“ wurde er zum ersten Mal für eine Rolle gecastet, die Andi heißt, ohne dass thematisiert würde, warum er so heißt, obwohl er aussieht, wie er eben aussieht.

„Das ist neu und sicher ein Fortschritt, wenn man bedenkt, von wie vielen unterschiedlichen Gremien so etwas bestätigt werden muss.“ Zumindest ist es – wieder einmal – ein Anfang.