Als ich ein Kind war, konnte ich, wenn ich Laune hatte, jeden Morgen, jeden Mittag, jeden Abend ein Rätsel sehen. Ich musste nur zu einer bestimmten Zeit zum Küchenfenster hinausschauen und warten. Bald fuhr ein VW-Bus vorbei, auf dessen Seiten in breiten Buchstaben WIGOMA stand. Das Wort war in­spirierend. Es trieb meine Träumereien an, ich sprach es vor mich hin, halblaut. Ich dachte nicht nach, was es bedeuten könnte. Ich wollte gar nicht wissen, was es bedeutete. Ich hütete mich, jemanden zu fragen, was es bedeutete. Es war ein Rätselwort. Ich begriff, dass Rätsel nicht unbedingt gelöst werden sollen.

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Nein, ich mache mich altklug, und das war ich nicht. Und vielleicht ist Rätsel ja auch der falsche Ausdruck. Man soll genau sein. Rätsel ist etwas, was die meisten gelöst haben wollen. Oder seien wir kategorisch: Rätsel ist definitionsgemäß ein zu lösendes. Ein ungelöstes Rätsel ist ein Ärgernis. Das unterscheidet es vom Geheimnis. Niemand hat ein Recht auf die Offenbarung eines Geheimnisses. Wer ein Geheimnis gelüftet haben will, ist auf die Gnade – oder Indiskretion – des Geheimnisträgers angewiesen. 

Unheimliches Déjà-vu

So gesehen, war WIGOMA weder ein Rätsel noch ein Geheimnis. Will ich poetisch tun, aber kindisch sein, sage ich: Es war ein Zauberwort. Aber was soll das heißen? Konnte ich damit machen, dass Wasser aufwärtsfließt? Also auch diese Definition gilt nicht.

Eine andere Kindheitserinnerung – eine magische: In unserem Keller stand eine alte Milchkanne aus Aluminium, sie war aus einem Stück getrieben, es gab keine Nähte, auch der Deckel war aus einem Stück, der Griff oben ein Knopf wie bei einer Schublade. Wenn ich dieses Ding ansah, ein schneller Blick darauf, dann hatte ich ein Déjà-vu. Wie bei den meisten dieser Phänomene konnte ich weder ein Bild noch eine Erinnerung fassen. Es war unheimlich. Zugleich aufregend. 

Ich probierte es immer wieder. Man weiß, das nützt sich ab. Es hat sich abgenützt. Noch heute, sechzig Jahre später, liegt das Ding immer noch irgendwo im Keller, es bewirkt nichts mehr. Aber irgendwann war es ein Rätsel? Was war es? Es inspirierte mich. Ein kleiner Glückstropfen war es. Es machte mich vor mir selbst ein bisschen größer.

„Längeres Gedankenspiel“ in der Literatur

Ich glaube, Arno Schmidt war es, der den Begriff „längeres Gedankenspiel“ in die Literatur einführte. Vor dem Einschlafen funktioniert das ziemlich gut. Man ist auch nie zu alt dafür. Höchstens zu vernünftig. Man träumt sich in eine Welt, in der man ist, wie man ist, und doch ist alles anders. Man besitzt eine gemütliche Wohnung in Man­hattan zum Beispiel, dort macht man sich ein Frühstück, rüstet sich für einen Spaziergang … Lachen Sie mich nicht aus! Das Gute daran ist, man muss keine Miete zahlen.

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Im „längeren Gedankenspiel“ erprobt der Spieler, wer er sein könnte, wenn er Zeit hätte. Die Wirklichkeit frisst so viel Zeit! Wir müssen nachholen. Der träumende Mensch lebt doppelt, dreifach, vielfach. Aufschriften auf VW-Bussen, Milchkannendeckel und ähnliche Dingen können das Träumen auf den Weg bringen. Ist doch egal, wie wir dazu sagen – Rätsel, Geheimnis, Zauberwort …

Objet trouvé

Die Surrealisten liebten das Objet trouvé, das kann sein ein gefundener Gegenstand, dessen Bedeutung und Funktion unbekannt ist, oder ein Gegenstand, der aus seinem Zusammenhang gerissen und in einen seiner Bestimmung fremden Zusammenhang gestellt wird. Berühmt ist der Satz des jungen Dichters Lautréamont: „Schön wie die Be­gegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Seziertisch.“ 

Marcel Duchamp stellte ein Urinal in ein Museum, dadurch wurde es zur Kunst, ein Objet trouvé, ein zum Kunstwerk erklärter Alltagsgegenstand. Duchamp revolutionierte damit die Kunst. Wir sehen seither die Welt anders. Wir sehen die Kunst anders. Wir ahnen, wer wir sein könnten, wenn wir Zeit hätten. Wir ­sehen, wie die Welt sein könnte, wenn in ihr andere Menschen lebten. Dieser Gedanke allein macht, dass andere Menschen in der Welt leben. Und diese anderen Menschen sind wir. 

Der Dichter erschöpft in sich alle Gifte

Arthur Rimbaud, der Dichter, schrieb in einem Brief an seinen Lehrer: „Der Dichter macht sich zum Seher durch eine lange, ungeheure und wohlüberlegte Entregelung aller Sinne. Alle Formen der Liebe, der Leiden, des Wahnsinns; er sucht selber, er erschöpft in sich alle Gifte, um nur deren Quintessenzen zu bewahren.“

Er meinte die Ausschweifung. Er hat ein verrücktes Leben geführt. Er hat seinem Freund und Geliebten Paul Verlaine eine Zaunlatte über den Kopf gehauen, er ist zu Fuß von Wien nach Paris gegangen, er hat sich von der holländischen Kolonialarmee anheuern lassen, nur um gratis nach Java zu gelangen, ist dort desertiert, in Abessinien hat er mit Waffen und Sklaven gehandelt, von Dichtung wollte er nichts mehr wissen, und mit noch nicht vierzig Jahren ist er gestorben. Ich widerspreche ihm: Nicht die Ausschweifung, die Abschweifung ist das Fahrwerk der Poesie. Die Poesie lässt uns verharren, aber die Welt unter uns bewegt sich. Ich fragte einmal eine Zirkusfrau, ob es denn nicht anstrengend sei, immer herumzufahren, immer irgendwo anders zu sein. Sie antwortete: „Nicht wir fahren, wir bleiben immer auf demselben Fleck. Die Welt unter uns bewegt sich. Wir sind immer da.“

Überschätzte Wahrheit

Und dann beging ich einen ­Fehler. Unüberlegt und nüchtern fragte ich meinen Vater, als wir wieder einmal den VW-Bus an unserem Haus vorbeifahren sahen: „Was heißt eigentlich WIGOMA?“

„Wirkwaren Gottfried Matthis“, war die Antwort. Ausgesprochen ohne Häme, ohne Belehrung, ohne Staunen, ohne zu lachen, ohne Zerstörungswut.

So ist die Wahrheit. Der Dichter, wenn er ehrlich war, hatte die Wahrheit immer für überschätzt gehalten. Nur die zweitrangigen Dichter halten eine Fahne hoch, nur die drittrangigen schreiben einen Slogan auf die Fahne.

Michael Köhlmeier

Schriftsteller, 71 Jahre 
Letzte Veröffentlichungen: „Bruder und Schwester Lenobel“, Roman, Hanser Verlag, „Die Märchen“, Hanser Verlag

Weiterlesen: Alle Kolumnen von Michael Köhlmeier

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