Theater riecht nach Holz, Farbe, Schminke und Angst.

Guido Tartarotti
Anzeige
Anzeige

Ich hatte einmal die Gelegenheit, mit einem Burgtheaterdirektor vor einer Probe im Salzburger Landestheater auf der Hinterbühne zu stehen. Er hielt die Nase in die Luft und schnupperte. „Riechen Sie das?“ Ich roch. Theater riecht nach Holz, Farbe, Schminke und Angst. Füllt sich der Zuschauerraum, dann kommt noch die Duftmischung aus hunderten Parfüms und Rasier­wassern dazu, der dezente Schweiß von Vor­freude und Erwartung, und immer auch ein wenig Verdauung, wie das halt ist, wenn Menschen, die sich vorher Sekt und Lachsbrötchen zuführten, ­lange still sitzen müssen.

Am besten aber riecht das Theater nach der Vorstellung. All die erwähnten Düfte sinken auf den Boden, und übrig bleibt der Geruch des seit Jahrhunderten aus den Worten von Shakespeare, Schiller, Nestroy und längst vergessenen Dramatikern gebildeten Staubes. Gebildet in doppeltem Sinn: Es ist vermutlich der klügste Staub der Welt.

Den Geruch des Theaters habe ich am meisten vermisst in der Lockdown-Zeit. Er schmeckt ähnlich wie der Benzinduft an den alten Tankstellen der Siebzigerjahre: Man schnupperte als Kind in diesen Duft hinein, es wurde einem ein bisschen schwindlig, aber es fühlte sich gut an. Tankstellen waren ja damals in Wahrheit alle Theater, in denen die Tankwarte (ja, so was gab es einmal) aus jeder Ölstandskontrolle großes Drama machten, in ihren Kostümen aus ölverschmierten Overalls, Schnurrbärten und Minipli-Frisuren.

Theater ist ein Gebilde, gebaut aus Licht, Zauber und Bühnenstaub.

Guido Tartarotti

Was das Theater so aufregend macht, ist seine Vergänglichkeit. Ein Gemälde, ein Buch, ein Film, eine Schallplatte bleiben immer gleich – obwohl ich sie ­natürlich jedes Mal mit anderen Augen sehe bzw. anderen Ohren höre. Theater ist ein Gebilde, gebaut aus Licht, Zauber und Bühnenstaub, von herausragenden Schauspielern in die Luft geworfen.

So kann man auch gute von weniger guten Schauspielern unterscheiden: Der gute Schauspieler zeigt auf einen Tisch und sagt: Das ist England. Und man glaubt ihm. Dem weniger guten Schauspieler glaubt man nicht und möchte antworten: Nein, das ist ein Tisch.

Anzeige
Anzeige

Gute Schauspieler entwerfen mit wenigen Gesten und Worten eine ganze Welt aus Luft, die nach dem Schlussvorhang wieder zu Staub zerfällt. Schnell wird man süchtig nach diesem Vorgang – und möchte jeden Tag wiederkommen, um zu schauen, ob dieses unerhörte Kunststück wieder gelingt, dieses Zauberwunder statisch höchst instabiler, aber faszinierender Fantasie-Architektur.

Vielleicht sollte man in Flugzeugen, Baumärkten oder Laufhäusern Theater spielen?

Guido Tartarotti

In der Lockdown-Zeit konnte nicht Theater gespielt werden. Das ist verständlich – in geschlossenen Räumen verbreitet sich das Virus besonders gut. Und nicht ohne Grund sind Schauspieler für ihre Fähigkeit berühmt, bis in die zwölfte Reihe zu spucken. Andererseits: Flugzeuge dürfen voll besetzt werden, während Bühnenhäuser je nach Bestuhlung nur etwa ein Drittel der möglichen Besucher einlassen dürfen? Die Pointe liegt nahe: Vielleicht sollte man in Flugzeugen, Baumärkten oder Laufhäusern Theater spielen?

Die Frage stellte sich zwangsläufig: Wie „systemrelevant“ ist Theater? Die Antwort kann nur lauten: sehr, aber gar nicht. Thomas Gratzer, Direktor des Wiener Rabenhof-Theaters, sagt leidenschaftlich: „Theater- und Kultur­veranstaltungen sind die Bereitstellung von Nahrung für Geist und Seele und somit systemrelevant.“

Man ist geneigt, sofort mit dem Pathos eines routinierten Schiller-Schauspielers auszurufen: „Recht hat er! Nahrung! Für Geist und Seele!“

Natürlich ist Theater nicht systemrelevant. Aber wer will schon dauerhaft in einer Welt leben, in der nur Systemrelevantes möglich ist?

Tomas Schweigen, Leiter des Schauspielhauses Wien

Jedoch: Haben Sie das Theater wirklich vermisst? Ich meine: ja, natürlich, aber wirklich so sehr, wie Sie Essen, Trinken und Lieben vermissen würden? Ich gehe seit vielen Jahren ins Theater, manchmal zwei-, dreimal in der Woche. Wie oft ginge ich ins Theater, wäre ich nicht von Beruf Kritiker? Ich muss gestehen: Ich weiß es nicht.

Im März empfand ich es noch als unerhörte Zumutung, nicht ins Theater zu dürfen, im April war es nur noch ein leiser Phantomschmerz, im Mai hatte ich mich daran gewöhnt, ich Juni dachte ich nicht mehr darüber nach, und im Juli war es so, als hätte es nie so etwas wie Theater gegeben.

Vielleicht hat ja Tomas Schweigen, Leiter des Schauspielhauses Wien, recht, der es so formuliert: „Natürlich ist Theater nicht systemrelevant. Aber wer will schon dauerhaft in einer Welt leben, in der nur Systemrelevantes möglich ist?“ Und Harald Posch vom Werk-X spricht von „Gesellschaftshygiene“.

Während Fußballer schon seit langem wieder nach Torerfolgen ineinander verkeilt über den Rasen rollen und Sexarbeiterinnen wieder Sexarbeit verrichten, sollen Schauspieler mit Babyelefanten die Bühne teilen?

Guido Tartarotti

Besonders absurd sind in diesem Zusammenhang Abstandsregeln auf der Bühne. Natürlich braucht in Wahrheit keine Inszenierung Liebesszenen und Fechtduelle. Aber während Fußballer schon seit langem wieder nach Torerfolgen ineinander verkeilt über den Rasen rollen und Sexarbeiterinnen wieder Sexarbeit verrichten, sollen Schauspieler mit Babyelefanten die Bühne teilen?

Harald Posch drückt es so aus: „Wenn wir einander nicht anfassen, nicht schreien, schwitzen und übereinander herfallen dürfen, dann ist es besser, wir machen Puppentheater.“ Und Thomas Gratzer betont: „Theater ist ein sinnliches Erlebnis.“ Fehle diese Sinnlichkeit, werde womöglich das Publikum ausbleiben.

Viele Bühnen versuchten die Corona-­Zeit durch kreative Ideen zu über­brücken: Hörspiele, Filme, virtuelle Vorstellungen im Internet. All diese Aktionen waren ebenso engagiert wie auf deprimierende Weise bemüht. Nichts davon konnte das echte Erlebnis ersetzen. Tomas Schweigen: „Theater ist eine Kunstform der anwesenden Körper. Unsere Kunst komplett ins Netz zu ­verlagern widerspricht dem Kern und Wesen von Theater.“

Vielleicht ist das die eine große Chance der Covid-19-Zeit dass wir eines Tages bemerken, dass wir zwar ohne Theater ­leben können, aber nicht gerne.

Guido Tartarotti

Der romantischste Gedanke stammt von Gernot Plass, dem Leiter des Theaters an der Gumpendorfer Straße: „­Sollen wir wieder klandestine Theater­vereine gründen, die in ihren Lokalen den geschlossenen Gesellschaften Vorstellungen präsentieren, die mit verbote­nen Kuss- und Kampfszenen aufwarten?“ Mafiöses Theater in illegalen Hinterhofzimmern, wie eine gefährliche Substanz, wie Alko­hol in der Prohibitionszeit.

Vielleicht ist das die eine große Chance der Covid-19-Zeit: dass wir eines Tages bemerken, dass wir zwar ohne Theater ­leben können, aber nicht gerne. Dass auch Menschen, die schon vor Corona nicht ins Theater gingen, plötzlich feststellen: Moment, da gibt es ja etwas, das mein Leben bereichern könnte.

Das ist nämlich das Aufregendste am Theater: dass es uns für zwei, drei, manchmal sieben Stunden Luft­schlösser baut, in denen Gast zu sein das Leben erträglicher macht. Weil es dort ­besser, schlechter, interessanter, grausamer, liebevoller zugeht als in der echten Welt. Zumindest sind diese Parallelwelten von Shakespeare, Schiller, Tschechow, ­Turrini oder Elfriede Jelinek geschrieben und nicht vom schlechtesten ­Dramatiker der Welt, dem Leben.

Zur Person

Guido Tartarotti, 52, ist Journalist, Kolumnist, ­Kabarettist. Er begann seine ­Karriere 1990 beim „Kurier“, für den er auch heute noch Theaterkritiken und Glossen schreibt. Sein neues Kabarettprogramm „Guitar Solo“ hat am 23. September Premiere in der Kulisse Wien.

Termine

Guido Tartarotti in der Kulisse: Guitar Solo – Der Letzte dreht das Licht ab