Vor kurzem lag Dorothea Zeemanns Theatertext „Erbe“ noch als Typoskript im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Wenn der Text – im übertragenen wie vielleicht auch im buchstäblichen Sinne – unter die Lupe genommen wurde, dann wohl in erster Linie von findigen Literaturwissenschaftler*innen. Nun wird das vermutlich in den sechziger Jahren geschriebene Stück im Hamakom uraufgeführt und von der für ihre genauen, formal einprägsamen Inszenierungen bekannten Regisseurin Ingrid Lang zum Leben erweckt. Dafür nahm auch sie metaphorische Lupe zur Hand und legte den Text, der nun im Thomas Sessler Verlag erschienen ist, darunter.

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Nach mehrmaligem Lesen stellte die Regisseurin und künstlerische Leiterin des Hamakom fest: „Ich finde, dass das Stück immer besser wird, je öfter man es liest. Es ist ein Zeitdokument von unglaublicher Tiefe. Gleichzeitig hat es eine Wildheit, die uns in der Arbeit großen Spaß bereitet. Man kann sagen, dass es schade ist, dass es noch nie gespielt wurde. Man kann aber auch sagen, dass es schön ist, dass es jetzt gespielt wird.“ Sie lacht. Gerade stecke sie mit ihrem Team und Ensemble mitten in der heißen Schlussphase der Proben, fügt sie hinzu.

Nach Maria Lazars Stück „Der Nebel von Dybern“, das im Herbst 2023 im Hamakom zu sehen war, widmet sich das Theater am Nestroyplatz nun wieder einer Autorin, deren literarisches Werk weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden ist. „Es gibt noch viele Autorinnen, die es wiederzuentdecken gilt, weil sie lange Zeit nicht beachtet und ihre Arbeiten nicht ernstgenommen wurden“, ist Ingrid Lang überzeugt. Sie ergänzt: „Bei Dorothea Zeemann kommt hinzu, dass viele ihren offenen Umgang mit Sexualität nicht ausgehalten haben. Und ihre direkte Art, darüber zu schreiben – auch über Sexualität im Alter, ein Thema, das ja nach wie vor tabuisiert ist. Es hat ihr vermutlich auch nicht geholfen, dass sie aus keinem bürgerlichen Haushalt kam.“

Erbe Hamakom
Das Ensemble von „Erbe“ im Bühnenbild.

Foto: Marcel Köhler

Eine Wiener Geschichte

Doch nun zum Inhalt des Stücks: Ein Wiener Psychiater, kehrt 1945 als Überlebender des Holocaust nach dem Zweiten Weltkrieg in das Haus seines Vaters zurück, das in der Zwischenzeit in den Besitz seines ehemaligen Lehrers Prof. Dr. Reitknecht übergegangen ist. „Es ist eine Wiener Geschichte wie sie tausende Male passiert ist“, hält Ingrid Lang in aller Klarheit fest. Das Stück setzt sich außerdem aus drei Akten zusammen, die in den Jahren 1945, 1955 und 1960, jeweils am Geburtstag des Sohnes der Professorenfamilie, spielen. „Er wehrt sich gegen die Gesellschaft, in die er hineingeboren wurde. Als avantgardistischer Musiker ist sein Widerstand auch ein künstlerischer“, so Lang.

In der Figur des Sohnes Otto sei auch Dorothea Zeemanns Faszination für die Wiener Gruppe gut spürbar, erklärt die Theatermacherin. „Die Kraft der Kunst, die damals in diesen braunen Sumpf in Wien gefahren ist, hat ihr gut gefallen.“ Die Figur des Otto hätte sie auch auf die Idee gebracht, die Rolle mit dem Klangkünstler Sixtus Preiss zu besetzen, der auch für die Live-Musik des Abends verantwortlich zeichnet.

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Insgesamt war es Ingrid Lang jedoch wichtig, dass das Publikum die Geschehnisse aus der Perspektive des zurückkehrten Juden Alfons verfolgt. „Er kommt nach Hause, hat als Wiener in Wien aber kein Zuhause mehr. Trotzdem gibt er die Hoffnung nicht auf und sucht 15 Jahre lang nach Menschlichkeit. Am Ende stellt er fest, dass es keine Reue und für ihn in Wien kein Zuhause mehr gibt und entschließt sich deshalb dazu, die Stadt zu verlassen. Die Professorenfamilie hört indes nicht auf, sich selbst als Opfer zu betrachten.“

Sie hoffe sehr, dass durch das Stück deutlich wird, dass das eine Geschichte ist, wie sie unzählige Male in Wien passiert ist. Und dass in Sachen Aufarbeitung nach wie vor eine ganze Menge zu tun ist. „Es gibt deshalb einen Fremdtext in dem Stück, der sich mit dem gestrichenen Teil der Präambel beschäftigt, in dem gestanden hätte, dass Österreich für die Verbrechen des Nationalsozialismus verantwortlich ist. Die Schauspielerin und Performerin Sophie Kirsch – sie spielt bei uns Irmgard, die Nachbarstochter – hat den Text für die Inszenierung geschrieben“, erklärt Ingrid Lang.

Ingrid Lang Hamakom
Seit 2018 ist Ingrid Lang künstlerische Leiterin des Theater Nestroyhof Hamakom und seit 2020 für die Gesamtleitung des Hauses verantwortlich.

Foto: Marcel Köhler

Schicht für Schicht zum Kern vordringen

Auch im Bühnenbild von Marie-Luise Lichtenthal spiegle sich dieses Wegignorieren von Geschichte und Verantwortung wider, erläutert die Regisseurin. Unter anderem dadurch, dass die einzelnen Familienmitglieder auf den Büchern des heimgekehrten Juden Alfons herumtrampeln. „Für ihn geht es immer um die Bücher. Er betont immer wieder, dass sie sein Haus ruhig behalten können, er aber die Bücher mitnehmen möchte. Dass die Bücher in der Inszenierung den Boden bilden, soll auch verdeutlichen, wie Geschichte ignoriert wird – und wie diese Ignoranz nach wie vor dazu führt, dass wir nicht aus der Geschichte lernen und uns nicht weiterentwickeln“, vertieft Ingrid Lang ihren kurzen Einblick in die Setzung.

Bevor sich unsere Wege wieder trennen, möchten wir noch von Ingrid Lang wissen, was sie sprachlich an Zeemanns Text gereizt hat. Sie überlegt kurz, dann antwortet sie: „Es ist keine Alltagssprache, sondern eine Art zu sprechen, der eine Künstlichkeit innewohnt. Dadurch habe ich mich nicht aufgefordert gefühlt nach einem Realismus zu suchen, sondern konnte mit Verfremdungen arbeiten und das Ganze ein bisschen wilder angehen. Außerdem benennt Dorothea Zeemann die Dinge in einer Direktheit, wie man sie selten gelesen hat. Es ist eine sehr schonungslose Sicht auf diese Zeit, aber auch ein Text, in dem viel tiefschwarzer Humor steckt.“

Obwohl der Text viele Jahrzehnte lang in den Untiefen des Literaturarchivs schlummerte, gab es also gar nicht so viel Staub, der weggepustet werden musste. Das machte es einfacher, sich direkt zum Kern des Textes vorzuarbeiten. Dass es möglich war, den Text Schicht für Schicht zu ergründen, zeigt für Ingrid Lang, dass es ein guter Theatertext ist. „Ein guter Text ist für mich einer, der umso besser wird, je länger man sich mit ihm befasst. Ich habe wenig verändert, auch nur wenige Striche gemacht und nichts groß umgestellt. Diese Wildheit, die manchmal aus dem Text herausbricht und die sie als Autorin mitbringt, finde ich für die Bühne total spannend.“

Zu den Spielterminen von „Erbe“ im Hamakom!