Nichts für Traditionalisten. Diesen Gefahrenhinweis sollte das MusikTheater an der Wien eigentlich auf die Plakate kleben, um all die „Bitte keine Videos und bitte keine moderne Inszenierung“-Wehklager, die einem noch vor Beginn der Vorstellung die Stimmung vermiesen, vorzuwarnen. Man möchte meinen, es hätte sich langsam herumgesprochen, dass Intendant Stefan Herheim das Haus in einem zeitgenössischen Segment positioniert hat und auch klassische Werke in einen relevanten Kontext zu setzen trachtet. Die Realität ist indes, dass das meistbenutzte Wort in der Premierenpause „Werktreue“ lautete, nach der sich sinnloserweise viele sehnen, ohne genau zu wissen, was das eigentlich sein soll. Am Ende tröstlich, dass die auch von der Inszenierung Begeisterten in der Überzahl blieben und Regisseurin Eve-Marie Signeyrole gebührend feierten. So, das musste sein. Nun aber zu Julien Behr, den die BÜHNE wenige Tage vor der Premiere zum Interview traf, um über seinen ersten Roméo zu sprechen.

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Marie-Eve Signeyrole

Juliette goes to Hollywood

Verhängnisvolles Aufbegehren. Regisseurin Marie-Eve Signeyrole verlegt die Handlung nach Los Angeles und lässt „Roméo et Juliette“ nicht nur an ihren Clans scheitern. Weiterlesen...

Spontan und bartlos

Charles Gounods „Roméo et Juliette“ ist in dieser Produktion im Hollywood der 90er Jahre angesiedelt. Juliette – verkörpert von Mélissa Petit – vom Clan der Capulets trägt Züge von Sofia Coppola und versucht, sich vom Image der Jungschauspielerin hin zur erwachsenen Regisseurin zu emanzipieren, weshalb sie ständig mit einer Handkamera agiert, raucht, trinkt, Drogen nimmt und sich in ihrer Sexualität durchaus fluid zeigt. Roméo Montaigu ist der Sanftere der beiden, ein Romantiker, verliebt und bereit, für diese von allen Seiten unerwünschte Beziehung sein Leben bis auf die Grundfesten zu erschüttern.

Wie fühlt es sich an, als erwachsener Mann einen etwa 16-Jährigen zu spielen? Julien Behr lacht. „Ich bin Anfang 40, und wir haben versucht, mich so jung wie möglich aussehen zu lassen. Wenn ich meinen Bart wegrasiere, was ich getan habe, schaue ich schon jünger aus, aber natürlich ist es eine Illusion. Ich habe noch nie von einem Tenor gehört, der 20 Jahre alt wäre und die Kraft und Erfahrung hätte, eine solche Rolle zu meistern. Der zweite wesentliche Aspekt ist die Darstellung. Marie-Eve Signeyrole hat uns gebeten, möglichst spontan zu spielen, schließlich sind wir zwei verliebte Teenager, die sich wenig um die gesellschaftlichen Spielregeln der Erwachsenen kümmern, die Spaß haben wollen, unabhängig von den Konsequenzen. Durch diese Dynamiken wirkt man ebenfalls jünger. Auf der Bühne sind ständig zwei Kameras um uns, die das Geschehen filmen. Man könnte sagen, es ist zu 50 Prozent Oper und zu 50 Prozent Kino. Das heißt, man muss schauspielerisch sehr am Punkt sein, denn die Kameras fangen jedes Detail deines Ausdrucks und deiner Emotion ein, was nicht einfach ist, wenn du gleichzeitig singen musst.“

Ist er generell ein Freund moderner Regiekonzepte? „Das muss ich sogar sein, denn die meisten Produktionen, in denen ich singe, sind zeitgenössisch inszeniert. Für mich ist es keine Frage, ob etwas ‚klassisch‘ oder ‚modern‘ ist, sondern es geht darum, ob es ehrlich und gut ist. Wenn der Regisseur mit einer gewissenhaften Einstellung an die Arbeit herangeht, die Partitur studiert hat und das Stück respektiert, bin ich dabei.“

Romeo et Juliette
Roméo et Juliette im Hollywood der 1990er Jahre. Regisseurin Eve-Marie Signeyrole nahm Anleihen bei Filmclans wie den Coppolas: Mélissa Petit und Julien Behr in den fordernden Hauptrollen.

Foto: Monika Rittershaus

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Rollendebüt mit Lobliedern

„Für meine Stimme ist die Partie eine große Herausforderung, denn ich habe mich vor allem als Mozart-Interpret etabliert. Ich habe das Gefühl, mit dieser Art von romantischen, lyrischen Belcanto-Rollen wie in ‚La Traviata‘, ‚Lucia di Lammermoor‘ oder eben jetzt in ‚Roméo et Juliette‘ eine neue Karriere zu starten. Für mich als Franzosen ist es fantastisch, auch dieses Repertoire des 19. Jahrhunderts zu singen, Roméo ist wahrscheinlich die berühmteste Rolle für einen französischen Tenor – und dass ich dieses Debüt noch dazu im MusikTheater an der Wien, das ich als qualitativ anspruchsvoll und dennoch sehr familiär erlebe, geben darf, freut mich besonders.“

Es sei für ihn als Sänger ein wichtiger Aspekt, dass die Rahmenbedingungen angenehm seien, schließlich sei er zu 90 Prozent des Jahres nicht zuhause. An der Roméo-Partitur habe er etwa acht Monate intensiv gearbeitet. „Die Rolle verlangt einem gesanglich einiges ab, denn sie ist sehr lang, lyrisch, mit vielen hohen Tönen, und das Orchester ist groß. Man muss also viel Kraft in sein hohes Register stecken und Ausdauer beweisen. Aber ich genieße jede Sekunde davon.“

Wie hält er seine Stimme fit? „Ich versuche, ein menschliches Wesen zu bleiben und so intensiv wie möglich zu leben. Es liegt mir fern, mein gesamtes Dasein in den Dienst meiner Stimme zu stellen, denn ich habe ohnehin das Gefühl, der Oper schon sehr viel zu geben. Außerdem bin ich glücklicher Vater eines Babys, das mich gemeinsam mit meiner Frau nach Wien begleitet hat und für das ich selbstverständlich auch da sein muss. Nicht zu sprechen oder keinen Alkohol zu trinken, um die Stimme zu schonen, wäre mir unmöglich. Wenn ich in einem guten Restaurant bin, kann und will ich mich nicht einschränken und auf ein gutes Glas Wein verzichten. Das geht nicht. Selbstverständlich unterstütze ich mein Immunsystem durch natürliche Medizin, eben weil ich überall hingehe. Und ich versuche, viel zu schlafen, auch, wenn das Baby manchmal etwas dagegen hat (lacht). Es ist sicher essenzieller, glücklich zu sein, als sich dauernd Sorgen zu machen.“

Romeo et Juliette
Ständig filmen zwei Live-Kameras das Geschehen und machen jedes emotionale Detail sichtbar. Auf der Leinwand vergrößert: Mélissa Petit (Juliette) und Andrew Hamilton (Paris). Auf der Bühne: Mélissa Petit, Andrew Hamilton, Arnold Schoenberg Chor und das Ensemble.

Foto: Monika Rittershaus

Juristische Reißleine

Julien Behr sang zwar ab seinem sechsten Lebensjahr im Chor Petits Chanteurs de Lyon und machte mit zehn Jahren erste Theatererfahrungen, hatte allerdings schon von Kindheit an den dringenden Wunsch, Jurist zu werden. Also studierte er Rechtswissenschaften an der Universität in Lyon, schloss 2005 mit dem Master ab und wollte sich anschließend für einen der in Frankreich notwendigen Spezialisierungsstudiengänge einschreiben. „Diese Inskribtionsfrist habe ich leider versäumt, weshalb ich ein Jahr warten musste. Um die Zeit sinnvoll zu überbrücken, habe ich mich für das Gesangsstudium am Conservatoire national supérieur de musique et de danse de Lyon (CNSMD) angemeldet und wurde genommen. Das hat mich selbst am meisten überrascht, denn von 130 Kandidaten wurden nur drei oder vier ausgewählt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung von Oper und habe eine Arie aus ‚La belle Hélène‘ sowie das Schubert-Lied ‚Du bist die Ruh‘ vorgesungen, weil ich nichts anderes kannte.“

Da es sich beim CNSMD um eine hochseriöse Ausbildungsstätte für künftige Professionisten handelt, habe er das Gefühl gehabt, dass die Aufnahme in diesen exklusiven Kreis sein Leben ändern könnte. Und so war es auch. „Ich sehe das als Wink des Schicksals. Das Leben hat mich an der Hand genommen, und jetzt, 15 Jahre später, bin ich glücklich, diesen großartigen Job machen zu können.“

Talent versus Arbeit

Viele Opernsänger werden nicht müde, auf die Anstrengungen ihres Tuns hinzuweisen, welche die natürliche Begabung weit überträfen. Auch er? „Vielleicht ist meine Antwort darauf politisch nicht klug“, schmunzelt Julien Behr, „aber ich glaube, dass der Anteil an Talent riesig ist. Wenn man Sänger ist, singt man, ich sehe das gar nicht als Arbeit. Auch dann nicht, wenn ich eine Partitur einstudiere. Ich würde also sagen, der Anteil an Talent liegt bei 75 Prozent. Die besten Sänger haben meiner Meinung nach natürliche Stimmen. Roberto Alagna und Anna Netrebko zum Beispiel hatten schon immer diese stimmliche Qualität. Ich kann das Singen wirklich genießen, wenn ich auf der Bühne stehe, und wäre sehr unglücklich, wenn dem nicht so wäre.“

Sich selbst allerdings via Aufnahmen zu hören, sei eine ganz andere Sache. „Wie die meisten Opernsänger bin ich sehr kritisch mit mir und meistens enttäuscht, wenn ich meine Stimme höre. Wenn ich im Publikum sitze, ist es mir gar nicht so wichtig, ob jemand exakt singt, solange er oder sie musikalisch und emotional ehrlich ist. Diesen bestimmten Tenor- oder Sopranstil, wo es nur darum geht, seine stimmliche Kraft in möglichst vielen hohen Noten zu demonstrieren, kann ich überhaupt nicht leiden. Das ist auch nicht die Art von Oper, die wir heute noch sehen wollen.“

Sehr oft käme er ohnehin nicht dazu, in die Oper zu gehen. Leonard Bernsteins „Candide“ am MusikTheater an der Wien sei zuletzt ein Highlight für ihn gewesen. „Das war magisch, denn es hat vom Casting über das Orchester bis hin zum Bühnenbild einfach alles gestimmt. Ein seltener Glücksfall in der Oper.“

Nach „Roméo et Juliette“ geht Julien Behr auf Konzertreise nach Frankreich und Spanien, ehe er ab 15. Juni an der Opéra national de Paris die Rolle des Cinna in „La Vestale“ – Regie: Lydia Steier – übernehmen wird. „Und im Herbst singe ich Händels ‚Messiah‘ in einer Produktion der Komischen Oper Berlin in einem Hangar des ehemaligen Flughafens Tempelhof.“ Klingt spektakulär. Und modern. Also ganz nach Julien Behrs Geschmack.

Zu den Spielterminen von „Roméo et Juliette“ in der Halle E!