Eigentlich geht es im Theater immer um die ganz großen Themen. Wir sitzen im Büro von Gerald Maria Bauer, Chefdramaturg des Theaters der Jugend. Neben ihm Thomas Birkmeir, der Direktor. Vor uns ein Stapel Papier – die Unterlagen zu den Stücken der kommenden Saison. Gemeinsam werden wir alle Premieren für Sie durcharbeiten und vorstellen.

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Bauer: „Es gibt zwei Leitmotive: einmal das Thema Mobbing und wie man in dieser sich so schnell verändernden Welt damit umgeht und zweitens der aufkeimende Faschismus und wie totalitäre Machtstrukturen funktionieren. Wenn ich mit der Straßenbahn fahre, erlebe ich eine unglaublich aggressive Gesellschaft und frage mich: Wo ist der Schutzraum für die Kinder?“

Der Direktor nickt und setzt nach: „Es geht immer weiter weg von der Solidargemeinschaft hin zu einer Ich-AG-Einzelkämpfergemeinschaft, und es gibt keinerlei Debattenkultur mehr. Der andere wird zum Feind, wenn er meine Meinung nicht eins zu eins vertritt. Und: Jeder kann alles ungestraft posten - ein zutiefst undemokratischer Prozess.“

Es geht alles immer weiter weg von einer Solidargemeinschaft hin zu eine Ich-AG-Gesellschaft.

Thomas Birkmeir, Direktor Theater der Jugend

Geheimnis der verzauberten Stimme

Und schon sind wir beim ersten Stück: Alan Ayckbourns „Das Geheimnis der verzauberten Stimme“. Der Inhalt, kurz gefasst: Ein sehr lautes Kind verliert plötzlich seine Stimme.Thomas Birkmeir:

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„Stimme ist Identität, und was passiert, wenn diese wegbricht? Plötzlich hat das Mädchen eine tiefe Bassstimme, die sie nicht mit sich selbst verbinden kann. Das ist die Stärke dieses Stücks, dass es etwas sehr Ernstes komödiantisch verpackt.“

Der überaus starke Willibald

Wenn man einen sehr gedehnten Vergleich bringen darf, dann ist „Der überaus starke Willibald“ ein bisserl die deutsche Antwort auf Orwells „Animal Farm“: Als eine Katze eines Tages ungehindert ins Haus kommt, übernimmt die Maus Willibald die Macht im Mäusereich. Willi Fährmann, einer der erfolgreichsten deutschen Kinder- und Jugendbuchautoren, hat das Stück geschrieben und das Entstehen von Nationalsozialismus kindgerecht erklärt.

Thomas Birkmeir: „Dieser Willibald spielt auf der Klaviatur der Ängste - es ist eine wunderbare Parabel auf die Mechanismen des Faschismus.“

Thomas Birkmeir
Thomas Birkmeir ist seit der Saison 2002/03 Direktor des Theaters der Jugend, mit der Ende der Saison 2025/26 gibt er die künstlerische Leitung ab.

Foto: Andreas Jakwerth

König Gilgamesch – das größte Abenteuer der Welt

In diesem Epos begibt sich Gilgamesch, der König der Stadt Uruk, auf die Suche nach Unsterblichkeit, nachdem er und sein Gefährte Enkidu Taten begangen haben, die die Götter erzürnten und zu Enkidus Tod führten. Birkmeir: „Es ist eine große Geschichte, eines der ältesten Epen. Es ist ein bisschen Orpheus und Eurydike, und es ist eine Geschichte über Machtmissbrauch, die Endlichkeit des Lebens und wie man in diesen wenigen Jahren, die uns geschenkt sind, zu einer Art Weisheit gelangt.“

Er ist wieder da

„Er ist wieder da“ erzählt die Geschichte, wie Adolf Hitler nach dem Zweiten Weltkrieg im Berlin der Gegenwart wieder erwacht und eine überraschende Karriere im Fernsehen startet. Er muss sich mit einer Welt auseinandersetzen, die völlig anders ist als die, in der er aufgewachsen ist. Und er wird sehr schnell zu einem ungewollten Medienphänomen.Thomas Birkmeir wird selbst Regie führen, in der Hauptrolle sehen wir Stefano Bernardin, den Birkmeir vor über zwanzig Jahren an der Schauspielschule entdeckt hat.

Birkmeir: „Das Stück zeigt diesen Wunsch nach jemand Starkem und die immer verrückter werdende Medienindustrie dahinter. Es ist ein Werk, mit dem wir sagen: Haltet inne, denkt zwei Minuten nach und schaut, wohin der Wahnsinn führen kann.“

Gerald Maria Bauer
Gerald Maria Bauer ist Chefdramaturg des Theaters der Jugend und führt auch Regie.

Foto: Andreas Jakwerth

Die Wiese

Wunderbar: Peter Lund und Gerald Schuller werden wieder ein Musical schreiben. Gerald Maria Bauer: „Wir wollten der Frage nachgehen, was passiert, wenn sich Gesellschaften irrational verhalten - auch wenn es nur Insektengesellschaften sind. Auf einer Wiese leben diese Insekten in einer aufgeschlossenen Gesellschaft voller Ich-AGs, und eines Tages kommt eine Termitenfamilie aus Südamerika, die Hunderte Eier legt – und plötzlich geht die Angst um. Es ist das letzte Stück, mit dem wir uns verabschieden, und es passt.“

Der Junge mit dem längsten Schatten

In „Der Junge mit dem längsten Schatten“ erzählt Finegan Kruckemeyer einfühlsam und humorvoll von einem ungleichen Zwillingspaar und der schwierigen Suche nach sich selbst. Adam und Atticus sind eineiige Zwillinge. Beide trennen nur zwei Minuten voneinander, doch diese kleine Zeitspanne ist entscheidend, denn Adam, der Erstgeborene, ist selbstbewusst, sportlich und beliebt. Atticus hingegen ist zwar sehr klug, aber schüchtern und ein Außenseiter.

Gerald Maria Bauer, der auch Regie führen wird: „Ich finde diese Geschichte so unglaublich philosophisch: Was macht Menschen, die dieselben Startvoraussetzungen haben, so unterschiedlich? Das Stück lag chon lange auf meinem Schreibtisch, und ich bin froh, dass wir es jetzt umsetzen.“

Herausfinden, was passiert, wenn sich Gesellschaften plötzlich irrational verhalten.

Gerald Maria Bauer, Chefdramaturg

Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

Das Buch von Robert Musil erzählt die Geschichte des Schülers Törleß und von seinen Erfahrungen mit Gewalt und Machtmissbrauch an einem Internat der österreichisch-ungarischen Monarchie. Die Erzählung zeigt die Mechanismen des Machtmissbrauchs und die menschenverachtende Mentalität der Täter auf.

Sie kann als literarische Prophetie des Dritten Reichs interpretiert werden, in der die Figuren Züge der politischen Diktatoren Mussolini und Hitler vorwegnehmen. Thomas Birkmeir hat bereits vor 25 Jahren aus dem Roman ein Stück gemacht, das in Hamburg und Zürich schon erfolgreich gelaufen ist.

Thomas Birkmeir: „Mich beschäftigt dieses Zuschauen, dieses Mitläufertum sehr. Warum haben wir alle so wenig Zivilcourage? Warum trauen wir uns so wenig?“

Wolf

„Wolf“ von Saša Stanišić erzählt die Ge- schichte des Jungen Kemi, der unfreiwillig in ein Ferienlager im Wald geschickt wird, weil seine Mutter keine Zeit für ihn hat. Dort begegnet er dem Außenseiter Jörg, der von der Gruppe gemobbt wird. Kemi beobachtet die Situation und lernt, mit seinen Ängsten und dem Mobbing umzugehen, wobei er sich der Symbolik eines Wolfes in seinen Träumen bewusst wird.

Gerald Maria Bauer: „Es ist die Geschichte von jungen Menschen in einem Bootcamp und der Situation, dass einer froh ist, wenn der andere die Arschkarte gezogen hat.“

TDJ
Spiel für die BÜHNE-Kamera im Bühnenbild. Ende der Saison 2025/26 ist dann Schluss, nach über zwei erfolgreichen Jahrzehnten.

Foto: Andreas Jakwerth

Wir sind am Ende unseres Termins, haben einen Überblick bekommen. Es ist die letzte Saison von Bauer und Birkmeir. Einmal noch zeigen sie, was das Haus so erfolgreich gemacht hat. „Nächste Saison geht es um Angst, um Misstrauen und um den Zustand der Gesellschaft, und wir liefern keine Utopien, sondern konkrete Antworten – denn das ist es, was Jugendliche und Kinder brauchen.“

Thomas Birkmeir lächelt und meint es trotzdem sehr ernst.

Hier geht es zum Spielplan des Theater an der Jugend!