Wer ist Franz Kafka?

Um diese Frage zu beantworten, kann man nach Prag fahren und im Hotel Century Old Town absteigen. Gleich neben der Fahrstuhltür ist ein Schild angebracht, da steht: „Sie befinden sich im Gebäude der ehemaligen Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt, wo Franz Kafka in den Jahren 1908 bis 1922 arbeitete.“ Wenn Sie dann noch Lust haben und gut bei Kondition sind, dann rennen Sie die große Treppe des Hotels nach oben – spätestens dann sind sie ganz nah dran am Leben des Autors.

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Kafka kam fast jeden Tag zu spät zur Arbeit und hetzte von seiner Wohnung in der Bilekgasse 10 hierher und sprintete, weil ihm der Lift zu langsam war, die Treppe rauf zu seinem Büro. Es war im Übrigen dort, wo sich jetzt das Zimmer 214 befindet. Sie können sich aber auch die Fahrt nach Prag sparen und einfach in die Liliengasse 3 und dort im Theater im Zentrum ein paar Stufen nach unten gehen und sich gemütlich in einen Sessel setzen und „Im Panoptikum des Franz K.“ den Schauspieler*innen beim Stiegen-rauf-und-runter-Hetzen zu- schauen. Zusätzlicher Bonus: Sie bekommen beim entspannten Zuschauen auch noch Franz Kafkas Innenleben serviert. „Es wird kein Biopic erzählt – ‚Da ist Kafka geboren, und da ist er gestorben‘ –, sondern das Stück liefert verschiedene Einblicke; nicht nur in Kafkas Leben, sondern auch in seinen Kopf. Wir sehen, wie er 1918 denkt, und dann, was 1913 war. Es ist keine chronologische Biografie“, sagt Valentin Späth, einer der Schauspieler.

Entscheidungsschwach

Gerald Maria Bauer, der Regisseur des Stücks, hat sich durch tausende Tagebuchseiten und hunderte Briefe Kafkas gearbeitet und sie dann für die Bühne des Theaters der Jugend hergerichtet. Und zwar so, dass sowohl die Zielgruppe der ab 13-Jährigen einen Zugang zur Persönlichkeit und auch den Schriften Kafkas bekommt als auch jene Erwachsene, die zwar von Kafka und seinen Werken ge- hört, sie aber nie gelesen haben.

Oder, ganz salopp formuliert: Wer „Im Panoptikum des Franz K.“ gesehen hat, kann – als Erwachsener – im Kafka- Jahr mitreden und schafft – als Jugendlicher – in der Schule eine gute Note. Auftrag erfüllt. „Wir begegnen einem Menschen, der sich nicht getraut hat zu leben. Der vom Wunsch nach Selbstverwirklichung getrieben und gleichzeitig von riesengroßen Selbstzweifeln geplagt war. Man braucht sich nur anzusehen, wieviele seiner Texte Fragment geblieben sind. Franz Kafka hatte eine unglaubliche Angst vor dem Leben – privat wie beruflich“, sagt Gerald Maria Bauer.

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Zur Person: Valentin Späth

„Vergessen du musst, was früher du gelernt.“ Das Zitat des kleinen grünen humanoiden Aliens Yoda aus „Star Wars: Episode V“ ist auch das Lebensmotto des großen, schlanken Schauspielers. Geboren im Breisgau, der Vater Hausmeister in einer Waldorfschule, die Mutter Pfarramtssekretärin. Er lernte Tenorhorn, Trompete und Tuba und kann Kunstpfeifen. Sein erstes Engagement war am Nationaltheater in Sibiu (Rumänien). 2020 debütierte Späth am Theater der Jugend. Späth gilt als präziser Textarbeiter.

Valentin Späth
2020 debütierte Späth am Theater der Jugend. Derzeit ist der Schauspieler in der neuen Kafka-Inszenierung zu sehen.

Foto: Victoria Nazarova

Und Schauspieler Valentin Späth ergänzt: „Kafka hatte diese unglaubliche, brennende Leidenschaft in sich, aber er traute sich nicht zu sagen: ‚Hey, ich kündige meinen Job und lebe dann im Durchgangszimmer in der Wohnung meiner Eltern.‘“ Dabei hatte Kafka viele Eigenschaften, die so gar nicht dem Bild eines von der Welt abgekapselten Literaten entsprechen. Er war durchs viele Schwimmen durchtrainiert. War durchaus erfolgreich im Job, auch wenn ihn der immer wieder langweilte. Er hatte Affären und ging mit Max Brod gerne ins Bordell, und über all dem war die Angst, sich für etwas entscheiden zu müssen. Für die Liebe. Für die Ehe. Fürs Schreiben. Und so hetzte Kafka ruhelos durch sein Leben.

Hier rennt Kafka

Genau das tun auch die Schauspieler*innen des Theaters der Jugend. Sie rennen treppauf, treppab durch das großartige Bühnenbild von Friedrich Eggert. Immer in den klassischen Zwanziger- und Dreißiger-Jahre-Anzügen, die man von den Fotos von Kafka und aus dieser Zeit kennt, dem Kafka-Hut-Klassiker und den dazugehörigen Mantel inklusive.
Das hat durchaus sehr erdige Folgen. Valentin Späth: „Wir haben diese sehr schön geschnittenen Anzüge, aber die sind alle aus sehr dickem Stoff. Ich glaube, ich habe noch nie so viel geschwitzt während einer Vorstellung, und die Temperatur steigt während des Abends.“

Es gibt sehr verliebte Briefe, aber auch Mansplaining ohne Ende.

Sophie Aujesky, Schauspielerin

Es ist die simple physikalische Formel: Viele Menschen im Theater erzeugen viel Wärme, und die steigt auf. Ist gleich: Am oberen Ende des Bühnenbilds ist es am wärmsten.

1.700 Aktenordner wurden im Übrigen von der Werkstatt des TdJ zusammengeklebt und teilweise so verstärkt, dass die Schauspieler*innen darauf sitzen können. Sollte man also Ruhepausen vor Kafkas Schachtelsätzen brauchen, die einem in atemraubender Geschwindigkeit um die Ohren fliegen – es gibt was zu schauen. Auch nicht blöd, wenn man an die zu erreichende Zielgruppe denkt. Wobei man sich beim Zuhören voller Respekt denkt: Wie bloß machen die Schauspieler*innen das?

Wie lernt man so einen Text?

Wie merkt man sich diese Textmenge? Sophie Aujesky: „In diesem Fall habe ich den Text wie Vokabeln gelernt, wie eine Fremdsprache. Das klingt völlig unromantisch, war aber so. Ich bin nach der Probe nach Hause oder ins Kaffeehaus gegangen und habe den Text abgeschrieben und so gelernt. Ich hatte aber auch das Glück, dass Valentin mit dabei ist. Ich habe selten einen Kollegen erlebt, der mit einer derartigen Präzision an die Sprache herangeht. Manchmal hatte ich den Text noch in der Hand, da rezitierte er seinen, als würde er ihn herunterlesen.“

Ein Wunder? Valentin Späth lächelt und schüttelt den Kopf: „Zumindest am Anfang musste ich mir den Text gnadenlos Wort für Wort reinprügeln. Du wiederholst einen Satz so oft, bis du ihn kannst, und dann nimmst du dir den zweiten und den dritten." Die Sätze in seinen Tagebüchern schrieb Kafka immer in seiner gut lesbaren Handschrift. Schön zu sehen im Manuskript zum „Prozess“, das sich im Marbacher Literaturarchiv befindet und mehrere Millionen Euro wert ist. „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, war er eines Morgens gefangen.“ So lautete einer der bekanntesten Anfangssätze der Welt ursprünglich. Daraus wurde später: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“

Zur Person: Sophie Aujesky

Als sie geboren wurde und der Arzt ihre schwarzen Augen sah, sagte er zu ihrem Vater: „Herr Aujesky, gehen wir einen Cognac trinken, diese Frau wird Schauspielerin.“ Geboren in Retz, besuchte sie die Schauspielschule Kraus, ihr Coach ist der in Athen geborene und in London lebende Schauspieler Yorgos Karamalegos. Sie sagt: „Ich liebe das Theater als Gesamtkunstwerk. Das Gebäude und alle, die darin arbeiten. Mich berührt das Zusammenspiel der Gewerke. Ich könnte mir daher nie vorstellen, eine Solo- Show zu machen.“

Sophie Aujesky
Sophie Aujesky über Kafkas Briefe an Felice: Bauer: „Es gibt sehr verliebte Briefe, aber auch Mansplaining ohne Ende.“

Foto: Victoria Nazarova

Die Oliver-5-Schreibmaschine

Alle beruflichen Texte hackte er auf seiner Schreibmaschine vom Typ „Oliver 5“. Deshalb wird auf der Bühne in Schreibmaschinen gehämmert, als wäre es der Beat eines Raves. Das zeigt auch, wie intensiv sich die Macher des Stücks mit dem Leben Kafkas befasst haben. In Kafkas Büro wurden Lebensläufe und Katastrophen zu Akten und statistischem Material. Völlig manisch die Konversation mit Felice Bauer, seiner – wie er sich selbst glauben machen wollte – Ehefrau in spe. Es ist ein einziger Exzess der Selbstsuggestion. Rund 350 Briefe und Telegramme schrieb Kafka ihr, oft mehrere pro Tag. Nachzulesen in „Briefe an Felice“. Muss man aber nicht; das Theaterstück zu sehen reicht, um die Erkenntnis von Sophie Aujesky, die Felice spielt, zu teilen: „Ich habe natürlich das Buch gelesen. Aber nach 30 Seiten habe ich mir gedacht: Come on, das ist echt zu viel. Heute würde man das vermutlich Stalking nennen. Es gibt natürlich sehr verliebte Briefe. Aber auch Mansplaining ohne Ende.Vor allem in seinen Tagebucheintragungen beschwert er sich über Felices Gebiss und wie sie angezogen ist, dass sie so häuslich aussieht, und am selben Tag schreibt er ihr einen drei Seiten langen Liebesbrief.“

Start mit einem Nachruf

Für Sophie Aujesky hat Gerald Maria Bauer auch einen ganz besonderen Auftritt geschrieben. Er lässt das Stück mit einem Nachruf starten, den Milena Jesenská zwei Tage nach dem Tod Kafkas verfasst hat. Einem „Owezara“, wie man in Wien sagen würde. Aber nur auf den ersten Blick. Denn was Sophie Aujesky aus dem verschachtelten Text mit gefühlt hundert Adjektiven macht, ist einer von vielen Gründen, sich dieses Stück anzusehen.

Hier zu den Spielterminen von Im Panoptikum des Franz K.!