Als Calle Fuhr die Leitung des Volkstheaters in den Bezirken übernahm, begann er intensiv darüber nachzudenken, welche Art von Theater ihm in der Wiener Theaterlandschaft fehlte. Er kam dabei zu folgendem Schluss: Recherche-Theater, also „Theater, das nicht in der Fiktion die großen Erzählungen sucht, sondern in der Realität“. Mit der unabhängigen Rechercheplattform „Dossier“ holte er sich für sein Vorhaben eine ausgewiesene Expertin in Sachen Investigativjournalismus an die Seite. Wer jetzt an Geschichtsunterricht im Gewand eines Theaterabends oder an trocken erzähltes Dokumentartheater denkt, liegt damit jedoch absolut falsch, denn der groß gewachsene Theatermacher ist davon überzeugt, dass es für einen gelungenen Abend auch künstlerisch-poetische Zugänge und spannende Erzählweisen braucht.

Anzeige
Anzeige

Beides trifft mit hundertprozentiger Sicherheit auch auf die neueste Kooperation des Volkstheaters mit der Investigativplattform zu. Mit „Die Redaktion“ möchte Calle Fuhr nämlich nicht nur die Ergebnisse umfassender journalistischer Recherchearbeit auf die Bühne bringen, sondern auch den Rechercheprozess an sich. Ashwien Sankholkar, Chefreporter bei „Dossier“, kann ein Lied davon singen, wenn es darum geht, wie viele unvorhersehbare Wendungen dieser Weg mitunter nehmen kann. Neben Fragen zur Informationsbeschaffung und zum Umgang mit Klagen und Drohbriefen wird es in „Die Redaktion“ jedoch auch um eine konkrete Recherche aus dem beruflichen Alltag der stets auf Hochtouren arbeitenden „Dossier“-Redaktion gehen – genauer: um das fossile Machtsystem der OMV, Österreichs größten Industriekonzerns.

Markus Oehrn Szenen einer Ehe

In guten wie in schlechten Zeiten

In den Siebzigerjahren sorgte Ingmar Bergmans Film „Szenen einer Ehe“ für leere Straßen und volle Scheidungskanzleien. Für den schwedischen Künstler Markus Öhrn ist die Geschichte Startpunkt einer weiteren bildstarken Auseinandersetzung mit patriarchalen Machtstrukturen. Weiterlesen...

Es bleibt die Frage nach dem Warum

Vor rund drei Jahren begann Ashwien Sankholkar, der 2019 bei „Dossier“ seine neue berufliche Heimat fand, seine journalistischen Tiefenbohrungen in Sachen OMV. Dabei stieß er nicht nur auf Postenschacher und Ungereimtheiten bei der milliardenschweren Borealis-Übernahme, sondern auch auf Datenschutzverletzungen und einen seltsam anmutenden Sponsoring-Deal: Der Konzern hat über fünf Jahre hinweg eine beachtliche Geldsumme in den russischen Fußballklub Zenit St. Petersburg fließen lassen.

„Im Übrigen der Lieblingsklub von Wladimir Putin“, merkt Ashwien Sankholkar an. „Weil vonseiten der OMV niemand mit uns über diesen Deal sprechen wollte und wir als faktenorientiertes Medium Zahlen und Informationen erst nach genauester Überprüfung publizieren, dauerte es ein wenig, bis wir die Summe schwarz auf weiß vor uns hatten. Es waren fünf Millionen Euro pro Jahr, also um ein Vielfaches mehr, als die OMV zu dieser Zeit in österreichische Klubs steckte.“

Einen Sponsoringvertrag aufdecken zu müssen sei an sich schon eine dubiose Sache und ein Widerspruch in sich, fügt Calle Fuhr hinzu. „Denn eigentlich ist ein Sponsoring ja dazu da, Sichtbarkeit zu generieren. Zudem hat die OMV gar keine Tankstellen in Russland, weshalb man sich unweigerlich die Frage stellt, was damit eigentlich beworben werden soll.“ Dass der Konzern zum Teil dem Staat gehört, würde der ganzen Sache zusätzliche Brisanz und Dringlichkeit verleihen, sind sich die beiden einig. Die große Frage nach dem Warum konnten auch die Journalist*innen von „Dossier“ bislang nicht beantworten.

Anzeige
Anzeige

Jane Fonda

Ob ihm solche Lücken schlaflose Nächte bereiten würden, wollen wir an dieser Stelle von Ashwien Sankholkar wissen. Er lacht und verneint. „Das wäre ziemlich ungesund. Außerdem bedeutet das nicht, dass wir diese Frage nicht vielleicht in ein paar Monaten oder Jahren beantworten können.“

Die Möglichkeit, solche Leerstellen oder auch Stimmungen zu erzählen, hat „Dossier“ als faktenorientiert arbeitendes Medium zwar nicht, das Theater, das sich ganz anderer Erzählmechanismen bedienen kann, allerdings schon. „Wie sich eine Szene anfühlt, in der jemand unter Druck einen Vertrag unterschreibt, kann ich nicht zu Papier bringen, weil ich im Normalfall nicht Teil der Szene war und es mir die involvierten Personen meist auch nicht erzählen. Das Theater hat in diesem Zusammenhang ganz andere Möglichkeiten. Wir nützen in dieser Kooperation also sowohl die Stärken des Investigativjournalismus als auch jene des Theaters“, bringt es der Journalist auf den Punkt.

Die von „Dossier“ publizierten Recherchen zur OMV hatten Folgen: Der Konzern schickte der Rechercheplattform eine 130.000-Euro-Klage. Nach einem öffentlichen Aufschrei zog OMV-Vorstandsvorsitzender Rainer Seele seine Klage zurück und räumte wenig später seinen Posten.

Zuletzt brachte US-Superstar Jane Fonda die Sponsoring-Aktivitäten des Konzerns im Rahmen ihres Wienbesuchs wieder in die Schlagzeilen. Ihr Vorwurf: „Ölkonzerne töten Menschen, sie töten unseren Planeten. Und was sie probieren, ist, Geld an Museen und kulturelle Einrichtungen zu geben, damit sie als gute Bürger dastehen.“

„Auch darum wird es in dem Stück gehen“, hält der gebürtige Düsseldorfer Calle Fuhr fest. „Aber auch um die Überwachung von Klimaaktivist*innen und Konzernmitarbeiter*innen sowie um die teuerste Firmenübernahme der österreichischen Wirtschaftsgeschichte. Allerdings sind wir nicht daran interessiert, die OMV einfach an den Pranger zu stellen, sondern möchten Machtstrukturen aufzeigen und deutlich machen, was unabhängiger Journalismus bewirken kann.“

Die Redaktion Volkstheater in den Bezirken
Theater trifft Journalismus. Calle Fuhr und „Dossier“-Chefreporter Ashwien Sankholkar bringen jetzt gemeinsam das Stück „Die Redaktion“ auf die Bühne – das Ergebnis von drei Jahren Zusammenarbeit.

Foto: Mato Johannik

„She Said“ als Vorbild

Wie es denn gelänge, eine solch hochkomplexe Causa auf die Bühne zu bringen? Calle Fuhr hat sofort eine Antwort parat, die weit über das Stück hinaus- und tief in die DNA des Volkstheaters hineinreicht: „Eines unserer Leitmottos am Volkstheater lautet: ‚Enjoy complexity.‘ Wir genießen es, komplex und umfassend zu erzählen, sind uns aber auch bewusst, dass das ein riesengroßes Privileg ist.“

Einer Geschichte zu womöglich zeitloser Relevanz zu verhelfen, indem man sich Zeit für sie nimmt, ist ein Ansatz, den das Team des Volkstheaters mit der „Dossier“-Redaktion teilt. Hier haben sich definitiv zwei – wenn auch in ihrer Herangehensweise sehr unterschiedliche – Erzählstimmen gefunden, die sich mit narrativen Streifschüssen definitiv nicht zufriedengeben möchten. „Nachbohren“ lautet die Devise, die als Bild auch gut zum aktuellen Öl-Schwerpunkt des Volkstheaters passt.

Zur Person: Ashwien Sankholkar

Der Investigativ­journalist ist Chefreporter bei der ­unabhängigen Rechercheplattform „Dossier“. Zuvor arbeitete er bei „trend“ und „Format“, wo er maßgeblich an der Aufdeckung der Buwog-­Affäre ­beteiligt war. In der „Dossier“-Redaktion ist er unter anderem für die Tiefenbohrun­gen in Sachen OMV verantwortlich. 

Begleitender Podcast

Weil in einem Theaterabend dennoch nicht alles erzählt werden kann, wird es begleitend auch einen Podcast geben, ergänzt Calle Fuhr. Wie Ashwien Sankholkar hofft auch der Theatermacher, dass durch das Stück und den Podcast das Interesse der Menschen an unabhängigem Journalismus geweckt wird. Um den Abend möglichst spannend und lustvoll zu gestalten, nahm man sich Filme wie „She Said“ oder „Spotlight“ zum Vorbild.

„Man wird durch das Stück und den Podcast mit Sicherheit kompetenter in der eigenen Wahrnehmung des Konzerns, wie auch bei Fragestellungen zum Thema Klima, und kann dadurch kritischer nachfragen“, ist Sankholkar überzeugt. Calle Fuhr ergänzt: „Auch bei mir selbst konnte ich beobachten, dass ich durch die Auseinandersetzung immer mehr in das Thema reingekippt bin, obwohl ich keinen wirtschaftlichen Background habe.“

Das Schlusswort möchten wir Samira El Ouassil und Friedemann Karig, den beiden Autor*innen des großartigen Buches „Erzählende Affen“, überlassen: „In diesem Buch wollen wir zeigen, dass kaum etwas so mächtig ist wie eine gute Geschichte.“

Wir sind uns ziemlich sicher, dass sich dieser Satz durch das Stück „Die Redaktion“ ein weiteres Mal bestätigen wird. So. Jetzt ist aber wirklich Schluss.

Zur Person: Calle Fuhr

Geboren in Düsseldorf, lernt der 1994 geborene Calle Fuhr durch Regieassistenzen in Düsseldorf, Salzburg, Prag und Wien. Seit 2015 ­inszeniert er in Wien, Berlin, Basel und Luxemburg. Fuhr schreibt eigene Texte und unterrichtet an der Hochschule Ernst Busch in Berlin.

ist Autor von Theaterstücken, Regisseur und seit der Spielzeit 2020/21 Leiter des Volkstheaters in den Bezirken. In der Roten Bar des Volkstheaters war zuletzt sein Monologabend „Finale #2“ zu sehen. Seine Inszenierung „Heldenplätze“ mit Gerti Drassl läuft erfolgreich im Repertoire.

Zu den Spielterminen von „Die Redaktion“ im Volkstheater!