Achtung! Calixto Bieito kommt in die Stadt. Aber: Keine Angst. Alles wird gut und schön. Der katalanische Regisseur hat zwar 2004 Mozarts „Entführung aus dem Serail“ an der Komischen Oper in Berlin als ­SM-Event inszeniert und großes Folterwerkzeug zur Arie „Martern aller Arten“ aufgefahren, und „Madama Butterfly“ hat er ins Sexferien­paradies verlegt. Aber seine „Carmen“, die jetzt ins Repertoire der Wiener Staatsoper wandern wird, fährt im Vergleich zu den erwähnten Inszenierungen in einem eher moderaten Modus.

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Micaëla, die treue Seele vom Lande, liebt den Sergeant Don José, der sich in Sevilla in die Fabriksarbeiterin Carmen verliebt; Carmen aber liebt den Toreador Escamillo – und dieser vor allem sich selbst. Calixto Bieito versetzt die Handlung vom 19. Jahrhundert in die Zeit, als die Franco-Diktatur in ihren letzten Zügen lag. Das spanische Ambiente auf der Bühne ist minimalistisch: ein Telefonhäuschen und eine Stange mit einer rot-gelb-roten Fahne. Die Wucht der Inszenierung liegt in ihrer Fokussierung auf das Wesentliche: die Sänger. Und genau diese haben wir getroffen. Es wurde ein launiger Talk mit Erwin Schrott und der wunder­baren Anita Rachvelishvili. 

1. Beschreiben Sie uns die Magie von „Carmen“.

Erwin Schrott: Sie hält die perfekte Balance zwischen Tragödie und leichteren Momenten, kraftvollen Refrains und sehr intimen, fast ätherischen Solo-Momenten. Die raffinierte Musik, die sofort ins Ohr geht, auch wenn man keine musikalische Ausbildung hat. Können Sie sich vorstellen, dass „Carmen“ nach ihrer Uraufführung in der Oper Comique 1875 fast nur negative Kritiken bekam? Bizet starb mit 36, und einige Monate später wurde „Carmen“ in Wien aufgeführt und von Publikum und Kritikern begeistert aufgenommen. Brahms, Massenet und Saint-Saëns waren begeistert davon. 

Anita Rachvelishvili: Ich bewundere diese Frau, die bereit ist, für ihre totale Freiheit zu sterben.
Das ist der magische Punkt der Oper, und das macht den Unterschied aus. „Carmen“ ist komisch. „Carmen“ ist tragisch. „Carmen“ ist einfach alles.

2. Was ist das Besondere an Ihrer Rolle?

Erwin Schrott: Neben der exzellenten Musik und den schönen Kostümen, neben der Leidenschaft und seiner harten Persönlichkeit, neben all dem stellt sich Escamillo mit nur einem Umhang in den Händen vor einen 600 Kilo schweren Bullen. Außerdem will jeder er sein, und jede Frau will ihn. Also: Nicht viel, er ist ziemlich uninteressant.

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Anita Rachvelishvili: Alles an Carmen ist ­besonders: ihre Emanzipation, ihre Stärke.

3. Was wollte uns Bizet sagen?

Anita Rachvelishvili: Er wollte uns mit seiner magischen Musik eine Botschaft schicken: über die Kraft der Liebe, über die Kraft der Freiheit und die Kraft, ein Mensch zu sein.

Erwin Schrott: Er wusste, dass etwas Großes geschah. In einem Brief an einen Freund schrieb er, dass er die absolute Gewissheit habe, ­seinen Weg gefunden zu haben. Er war sehr aufgeregt, die ­Gelegenheit zu haben, ein Drama mit echten ­Menschen auf die Bühne zu bringen, mit Charakteren, die echte menschliche Emotionen repräsentierten.

4. Wie würden Sie einem Kind den Inhalt von „Carmen“ erklären?

Anita Rachvelishvili: Das ist eine sehr nette ­Frage. (Lacht.) Es ist die Geschichte einer Frau, die die Freiheit so sehr liebte, dass sie sich dafür geopfert hat. Ich würde Kindern erzählen, was ­Männer Frauen angetan haben, und ich würde ­ihnen ­erklären, wie wichtig der freie Wille ist. Es ist eine Geschichte, die tragisch endet, aber mit einem Sieg.

5. Haben Sie Angst, Ihre Stimme zu verlieren?

Erwin Schrott: Solange ich sie wieder finde: nein! Ich bin ständig am Suchen. Das Studium der Entwicklung und Veränderungen meiner Stimme ist Teil meiner täglichen Aktivitäten.

Anita Rachvelishvili: Singen macht mich einfach sehr, sehr glücklich. Ich habe keine Angst, weil ich mich fit halte; wenn es passieren sollte, dann werde ich etwas anderes Wichtiges für mein Leben finden. 

6. Ist Stierkampf noch zeitgemäß?

Anita Rachvelishvili: Ich finde, Stierkampf ist eines der abscheulichsten Dinge, die es auf der Welt gibt. Er ist brutal und ekelhaft, der Stierkampf sollte eigentlich der Vergangenheit angehören.

Erwin Schrott: Kürzlich habe ich einen sehr interessanten Artikel in einem Psychologiemagazin gelesen, in dem sie auf das Fehlen eines Enzyms als Hauptgrund hinwiesen, warum Stierkämpfer diesen sensationsheischenden Beruf wählen. ­Anscheinend ist das Fehlen eines Enzyms namens Monoaminoxidase dafür ­ver­antwortlich, das als ­chemisches Sicherheitsventil fungiert. Und wenn da die Werte nicht stimmen, wählen wir Akti­vitäten, in denen wir den Nervenkitzel suchen. Vielleicht wäre Kitesurfen eine bessere Option für alle, die diese Art von Adrenalin suchen. Außerdem würde es dann keine armen Tiere geben, die zum Spaß getötet werden. Das ist nur meine Meinung, vielleicht bin ich in dieser Angelegenheit auch etwas zu ­sensibel. Wissen Sie, ich war jahrelang Vegetarier, und auch heute essen wir zu Hause meistens pflanzliches ­Eiweiß. Ich liebe Tiere, und ich glaube nicht, dass sie Teil solcher „Sportarten“ sein sollten. 

7. Was hat Caruso erreicht, was Sie nicht erreicht haben?

Erwin Schrott: Es gibt keinen Grund für mich, mich mit dem großen Enrico Caruso oder mit irgend­jemand anderem zu vergleichen. Aber ich habe gehört, dass Caruso seine Brust beim Ein­atmen um ungefähr neun Zoll erweitern konnte, und ich arbeite immer noch daran. (Lacht.) Wussten Sie übrigens, und das finde ich wiederum lustig, dass Caruso einen österreichischen PR-Agenten hatte, der der Neffe von Sigmund Freud war? ­(Edward L. Bernays, Sohn von Freuds Schwester Anna, war eine US-PR-Legende, Anm. der Redaktion.)

8. Welche Arie aus „Carmen“ singen Sie unter der Dusche?

Erwin Schrott: Ich dusche zweimal am Tag, aber dabei wird nicht viel gesungen. Ah! Da ist endlich das Gemeinsame: Caruso duschte auch zweimal am Tag. (Lacht.)

Anita Rachvelishvili: Ich singe nie unter der Dusche und auch sehr selten zu Hause. Wenn man jemanden bei uns singen hört, dann ist das mein Mann. (Lacht.)

9. Was ist für Sie das schönste Lied der Welt?

Anita Rachvelishvili: Puh, Sie stellen aber schwierige Fragen! Für mich ist es Stevie Wonder mit „Don’t You Worry ’bout a Thing“. Und jetzt wissen Sie, dass ich privat nicht die ganze Zeit Opern höre. (Lacht.) Bei Opern tue ich mir schwer, ein Lieblingsstück zu nennen.

Erwin Schrott: Wirklich? Nur eines? Ich habe 100 Lieder in meinem Kopf.

10. Was würden Sie Verdi fragen, wenn Sie eine Stunde mit ihm hätten?

Anita Rachvelishvili: (Lacht.) Ich würde ihn darum bitten, eine Oper zu schreiben, in der ein Mezzosopran die Hauptrolle singt; und ich hätte auch gerne alles über seine Arbeitsweise und seine Ideen gewusst.

11. Warum unterstellt man Tenören, dass sie nicht besonders intelligent wären?

Erwin Schrott: Am 6. August 1965 wurde der große Dirigent Arturo Toscanini in der Zeitschrift „Time“ zitiert: „Die Vibrationen hoher Töne, die häufig auf das Gehirn eines Sängers schlagen, ­machen ihn dumm.“ Aber ich stimme dem nicht zu.

Anita Rachvelishvili: Also, ich habe in meiner Karriere immer nur mit wunderbaren und klugen Tenören gearbeitet. 

12. Haben Sie je bei einem Begräbnis gesungen?

Erwin Schrott: Ich würde gerne bei meinem ­singen, aber ich bin so beschäftigt, dass ich es wahrscheinlich verschieben muss.

Anita Rachvelishvili: In Georgien singt man nicht bei Begräbnissen. (Lacht.)

13. Was hat Ihre Mutter immer zu Ihnen gesagt?

Erwin Schrott: „Ich bin stolz auf dich.“

Anita Rachvelishvili: „Folge deinem Herzen, aber sei klug dabei.“ Und genau das habe ich getan.

14. Sind Spanier heißblütiger als wir anderen?

Erwin Schrott: Nach mehreren ethnografischen Studien und der Einbeziehung mehrerer Personen in eine detaillierte Verhaltensbeobachtung bin ich noch zu keiner bestimmten Schlussfolgerung gekommen. (Grinst.)

Anita Rachvelishvili: Nein. Georgier, Italiener, Argentinier sind ebenso heißblütig. Nicht dein Herkunftsland macht dich heißblütig, sondern die Erziehung, welche Musik du hörst, die Kultur. Es ist der Mix.

Foto: Inge Prader

Zur Person: Erwin Schrott

Erwin Schrott hat ­österreichisch-deutsche Vorfahren. Er debütierte ­bereits mit 22 Jahren an der Oper, brilliert aber auch abseits der Opernbühnen und unterstützt unter anderem junge Künstler.

Zur Person: Anita Rachvelishvili

Ihren Durchbruch feierte die Mezzosopranistin 2009 an der Scala als Carmen an der Seite von Jonas Kaufmann. Seither hat sie die ­Spanierin u. a. im Royal Opera House und an der Met gesungen.

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