Zum ersten Mal inszeniert Lydia Steier „Candide“ und freut sich darauf, gemeinsam mit den Figuren die Abgründe der Menschheit zu durchwandern. Auch für Nikola Hillebrand ist es ein Debüt. Sie singt die Partie der Cunegonde.

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Ein Dramaturg habe ihr einmal gesagt, dass das Publikum durch ein Tal der Langeweile gehen müsse, um eine Operninszenierung richtig genießen zu können, erzählt Lydia Steier. Sie lacht. Die Telefonverbindung nach Frankfurt, wo Steiers Inszenierung der „Aida“ nur zwei Tage nach unserem Interview Premiere haben wird, ist nicht einwandfrei, doch gut genug, um deutlich durchklingen zu lassen, was die Regisseurin von dieser Aussage hält.

„Ich finde, dass das totaler Quatsch ist. Man geht doch in die Oper, um sich mitreißen zu lassen“, untermauert sie ihre Haltung, die im Falle der gebürtigen Amerikanerin auch viel mit Unterhaltung zu tun hat. Jedoch alles andere als im Sinne wundgeklopfter Oberschenkel. „Ich glaube fest daran, dass in die Tiefe gehende Analysen unserer Zeit mit schlauer Unterhaltung kompatibel sind“, so Steier, die auch nicht davor zurückscheut, große tragische Opern mit Tanz- und Shownummern auszustatten. Nicht nur ihr Lachen als Antwort auf die eingangs erwähnte Bemerkung verrät viel darüber, wie sie an ihren Beruf herangeht, sondern auch die Tatsache, dass sie ihre prägenden Lehrjahre bei Regisseuren wie Barrie Kosky und Calixto Bieito absolvierte.

Ganz oben auf der Wunschliste

Bei „Candide“, Leonard Bernsteins wildem Genrecocktail, der wiederum auf Voltaires gleichnamiger Groteske basiert, sei es eher umgekehrt, merkt sie an. „Das ist ein Stück, das geradezu nach Shownummern schreit, das ich aber auch als tiefgehende Untersuchung dessen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, unglaublich spannend finde. Ich glaube, dass es unsere Aufgabe als Theatermacher*innen ist, diese Abgründe zu zeigen, sodass den Zuschauer*innen das Lachen im Hals steckenbliebt.“ Bernsteins zwischen Oper, Operette, Musical und Revue oszillierendes Stück stand schon lange auf ihrer Wunschliste.

„Im Frühjahr 2021 habe ich Stefan Herheim in seiner damaligen Wohnung in Berlin besucht, und er hat mich gefragt, welches Stück ich schon immer inszenieren wollte. An oberster Stelle stand ‚Candide‘. Ich habe ihm auch damals schon gesagt, dass ich gerne volle Kanne in diese Abgründe gehen würde, weil ich glaube, dass das Wiener Publikum – das nicht nur wahnsinnig gebildet, sondern auch selbstironisch ist – diesen Zugang gut annehmen wird“, erinnert sich die Regisseurin, die zum zweiten Mal in Wien inszeniert.

Nikola Hillebrand Candide
Nach ihrem Studium in München wurde Nikola Hillebrand ans Nationaltheater Mannheim engagiert. Seit 2020 gehört sie zum Ensemble der Semperoper Dresden, wo sie 2022/23 Partien wie die Pamina in Mozarts „Die Zauberflöte“ und die Musetta in Puccinis „La Bohème“ sang. Neben ihrer Opern- und Konzerttätigkeit ist sie auch Liedsängerin und Gewinnerin des berühmten Liedwettbewerbs „Das Lied“.

Foto: Miina Jung

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„Musikalisch liebe ich an ‚Candide‘, dass furchtbare Situationen mit einer  fast schon unappetitlichen Leichtigkeit präsentiert werden. Inhaltlich könnte das Stück gar nicht besser in unsere Zeit passen, weil es unseren Wunsch beschreibt, trotz all der Grausamkeiten, von denen man umgeben ist, an das Gute zu glauben“, so Steier. Sie selbst sei keine Optimistin, fügt sie lachend hinzu. Doch die kollektive Anstrengung, die notwendig ist, um eine Operninszenierung auf die Beine zu stellen, habe ihr bereits oft gezeigt, dass Theater und Oper eine Form von Utopie innewohne – „dass mit der Magie der Bühne auch scheinbar Unmögliches möglich wird“. Steier ist zudem davon überzeugt, dass Operninszenierungen auch dazu da sind, einen Spiegel auf die Gegenwart zu halten – allerdings bevorzuge sie keine geraden Spiegel, sondern solche, die leicht verbogen oder verbeult sind. „Man erkennt sich selbst und die Welt um einen herum zwar wieder, aber alles sieht leicht verzerrt aus.“

Keine Lust auf Schubladen

Auch Nikola Hillebrand, die die von Candide geliebte und das ganze Buch über gesuchte Cunegonde spielt, findet das Stück unter anderem deshalb reizvoll, weil es sich musikalisch nicht so richtig einordnen lässt. „Das zu tun ist aber auch gar nicht notwendig, finde ich“, hält die Sopranistin fest, die wir telefonisch in Dresden erreichen. Auch sie selbst ließe sich nicht gerne in Schubladen stecken, fügt sie hinzu. „Ich jongliere gerne mit verschiedenen Genres. Außerdem mag ich es sehr, dass bei ‚Candide‘ alles mit einem zwinkernden Auge geschieht“, so Hillebrand.

Mit Lydia Steier arbeitet die in Bayern aufgewachsene Sopranistin zum ersten Mal zusammen. Sie wirft ein: „Das Schöne an neuen Begegnungen ist unter anderem, dass man immer wieder neue Seiten an sich selbst entdeckt.“ Hin und wieder Risiken einzugehen und Neues auszuprobieren liege ihr ohnehin sehr, ergänzt sie lachend. Wie für Bernsteins Stück gilt also auch für die Sängerin: Sämtliche Schubladen können getrost geschlossen bleiben.

Auf die Rolle der Cunegonde hat sie sich mit umfassender Lektüre vorbereitet, erzählt sie. „Innerlich versuche ich aber, immer offen zu bleiben und keinesfalls mit einer fertig zusammengezimmerten Idee der Rolle in die Probenarbeit zu gehen“, so Hillebrand. Gut vorbereitet, aber dennoch in jeglicher Hinsicht – auch stimmlich – frei zu sein, das ist eines der wichtigsten Credos der Sopranistin, die derzeit zum Solist*innenensemble der Semperoper Dresden gehört. „Mein großer Wunsch ist immer, technisch so fundiert zu singen, dass ich mich frei fühlen kann. Dieser Prozess ist jedoch nie abgeschlossen.“

Die ebenso virtuose wie berühmte Arie „Glitter and Be Gay“ hat sie schon einige Male gesungen, den Rest der Partie einzustudieren sei eine spannende Entdeckungsreise gewesen, erzählt Hillebrand, die sich schon sehr auf den Winter in Wien freut. „Die Arie ist für jede Koloratursopranistin ein besonderes Juwel, weil man unglaublich viel Ausdruck dafür braucht.“ Ihre erste Begegnung mit Cunegonde hatte sie beim Lesen der satirischen Erzählung von Voltaire. Lachend hält sie fest: „Bei ihrem ersten Aufritt wird sie als große, majestätische, blonde Frau beschrieben, die – noch dazu – wie ich in Nordrhein-Westfalen geboren wurde. Da dachte ich mir sofort: Das ist meine Rolle! Wobei ich mir beim Adjektiv ‚majestätisch‘ nicht ganz sicher bin.“

Was Lydia Steiers „Candide“ letztendlich alles sein wird, lässt sich vor Probenstart nur schwer beantworten. Möglicherweise wäre eine eindeutige Antwort aber auch nur hinderlich, wenn es darum geht, sich „volle Kanne“ in diese bizarre Welt hineinzustürzen. Eines kann aber bereits festgehalten werden: Es wird mit Sicherheit ein ebenso sinnlicher wie selbstironischer und bitterböser Abend. Und: Es werden zwar verdammt viele Täler sein, durch die man mit Candide geht, doch keines davon wird den Namen „Tal der Langeweile“ tragen.