Es ist irgendwie verrückt: Da ist die Oper monatelang zu, und trotzdem hat sie mehr Zuseher:innen erreicht als je zuvor. Mehr als sechs Millionen Menschen haben via ORF und Streams die Premieren der ersten Spielzeit von ­Bogdan Roščić gesehen. Als einziges Haus weltweit hat die Staatsoper der kollektiven Kultur-Depression Paroli geboten und seit September durchgehend gespielt – im Theater selbst nur für die Augen der Kameras, aber draußen für die ganze Welt. Der Mann, der das als Kreativkraft angetrieben hat, sitzt gelassen in seinem Büro. Ein rotes Plastik-Kaffee­häferl in der rechten Hand. Es ist sein Lieblingsbecher. Woher er kommt, weiß man nicht, beim Auszug des Vorgängers wurde er achtlos in der Spüle zurück gelassen. Roščić mag re­cycelte Dinge. Sein Büro ist voller Sachen, die einmal ­woanders gelebt haben.

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Es ist nicht die Zeit für Klein-Klein, es ist die Zeit für die größten, revolutionären Werke.

Bogdan Roščić

Unser Thema: das Neue in der kommenden Saison – „Il barbiere di ­Siviglia“, „Don Giovanni“, „Wozzeck“, „Tristan und Isolde“, „L’Orfeo“ – und dann „Rossinimania“. „Es ist nicht die Zeit für Klein-Klein, es ist die Zeit für die größten, revolutionären Werke“, sagt er und nimmt einen Schluck aus seiner roten Tasse. Stück für Stück will Roščić uns die Faszination der Werke erklären und warum sie gespielt werden.

Erster auf meiner Liste: „Don Giovanni“. Warum?

Bogdan Roščić: „Don Giovanni“ ist so ein Werk, bei dem dir die Gründe nicht ausgehen. Es gibt auch ganz persönliche Gründe. Das ist das Werk, das mich in den Opernwahnsinn gezogen hat als Halbwüchsiger. Das ist das Werk, das ich vielleicht von ­allen Opern am besten kenne und das ich für einen absoluten Höhepunkt halte. Wenn es nur eine Oper geben dürfte, müsste es trotz aller Widersprüche der „Don Giovanni“ sein. Ein anderer Grund ist natürlich die Bedeutung von Mozart für dieses Haus und für diese Stadt.

Dem Bösewicht gilt alle Sympathie

Das Werk gilt als kaum interpretierbar.

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Bogdan Roščić: Das, wovon alles ausgeht im „Don Giovanni“, ist – Don Giovanni. Alle anderen Figuren leben nur, indem sie um ihn kreisen. Er ist wirklich das Zentral­gestirn dieser Oper. Darauf baut auch das Konzept von Regisseur Barrie Kosky auf. Verblüffend für jegliche Interpreta­tion ist ja auch, dass der vordergründige Bösewicht in Wahrheit der ist, dem alle Sympathie gilt. Dass es, wenn diese Person zum Schluss in unbeugsamer Verweigerung jeder Reue untergeht, kaum erträglich ist. Niemand im Saal denkt: „Endlich! Weg mit ihm!“

Wie interpretiert man es, dass ohne den „bestraften Wüstling“ am Schluss die ganze restliche Gesellschaft keinerlei Interesse mehr für uns hat? Er war das Zentrum der Aufmerksamkeit, der Zuneigung, der widerwilligen Faszination.

Die BÜHNE zu Besuch im Büro des Direktors. Die Einrichtung ist aus einem Vintage-Laden und secondhand. Am Tisch liegt die Partitur von ­„Werther“. Die Aussicht geht Richtung Ringstraße.

Foto: Peter Mayr

Das heißt, das ist ein Stück für und über CEOs? 

Bogdan Roščić: Von mir aus auch das. Es haben sich Jahrhunderte abgearbeitet am „Don Giovanni“. Schon an der Frage: Was geschah in Donna Annas Kammer? Wurde Gewalt ausgeübt, oder kommt der alles auslösende Konflikt von anderswo? Es gibt ja die Lesart, dass es zum Äußersten eben nicht kam. Mehr wurde vielleicht nur über Wagners Werke geschrieben. Aber da ist es so viel klarer, was gemeint ist. Wagner hat aus einem philosophischen, gedanklichen Ansatz heraus geschrieben. Daraus entwickelt er ein Buch, und darauf schreibt er die Musik. Mozart hat alles immer nur aus der Musik entwickelt.

Und sie waren beide Kinder ihrer Zeit. Wagner der Großunternehmer nach erfolgreicher Durchsetzung des Urheberrechts, Mozart ökonomisch gescheitert im Versuch, vom Lakaien zum unabhängig lebenden Künstler zu werden. Mozart war sehr pragmatisch, immer auf der Suche nach jemandem, der ihm ein gutes Libretto schreibt – „ein Büchl“, wie er in einem Brief sagt. Und dann traf er den kongenialen Da Ponte.

Wenn die Kunst – so viel Vertrauen muss man haben zu den Meistern – einen Weg ernsthaft einschlägt, dann kann man das nicht als Willkür abtun, sondern muss sich darauf einlassen."

Bogdan Roščić über atonale Musik

Dann gehen wir doch gleich ­weiter zum nächsten „Büchl-Stück“, dem „Wozzeck“. Unter Ihrem Vorgänger wurde die Oper nur einmal gespielt, unter Holender fast jede Saison. Atonale ­Musik ist ja nicht unbedingt ein Seller.

Bogdan Roščić: Das ist ja nicht das einzige Kriterium. Es gibt Erlebnisse, denen muss man sich einfach aussetzen. Man verarmt sein eigenes Leben, wenn man sagt: „Ich weiß ohnehin schon, wie das ist“, nämlich irgendwie dissonant und schwierig. Man muss sich selbst eine Chance geben. Immerhin hat fast ein ganzes Jahrhundert geglaubt, diesen Weg beschreiten zu sollen. Wenn die Kunst – so viel Vertrauen muss man haben zu den Meistern – einen Weg ernsthaft einschlägt, dann kann man das nicht als Willkür abtun, sondern muss sich darauf einlassen. Ein auf höchstem Niveau gespielter, gesungener und inszenierter „Wozzeck“ lässt als Theatererlebnis niemanden kalt, und mit Simon Stone ist auch der richtige Regisseur mit an Bord.

„Tristan und Isolde“: Wagner hat in einem Brief behauptet, dass er selbst das Stück immer weniger verstehen würde …

Bogdan Roščić: Das Werk hat ja seine Widersprüche. Es ist einerseits ganz pur seine Bewälti­gung von Schopenhauers Philosophie. Wagner war Schopenhauer völlig ver­fallen, gleichzeitig wollte er dessen für ihn ausweglosen Pessimismus über­winden und auf eine andere Ebene kommen. Nämlich den Wahn des Egoismus ablegen durch die Erfahrung intensivster Liebe. Dieses Ringen kann man an „Tristan und Isolde“ Szene für Szene zeigen, vom sogenannten Tristan-Akkord bis hin zu den letzten Tönen des Werkes.

In den ersten zwei Takten sind vier musikalische Bausteine angelegt. Aus deren tausendfacher Verwandlung, Verknüpfung und gigantischer Steigerung ist das ganze Werk gebaut. Wagner hat es „Handlung“ genannt, aber es gibt so gut wie keine äußere Handlung, kein Drama, es ist ein philosophischer Diskurs. Nur eben mit den Mitteln der Kunst, und so landet er am Schluss in Isoldes ­Verklärung doch bei der Verherrlichung von Nacht und Tod in einer der größten ­Opernszenen der Geschichte. Das vorgeschlagene Bühnenbild dafür ist unglaublich, jetzt müssen wir es nur noch technisch hinbekommen. 

Herbert Fritsch inszeniert „Barbiere“

Eine Haarnadelkurve zum „­Barbier“: Wagner hat sich gerne über Rossini lustig gemacht.

Bogdan Roščić: Ja, aber er war auch tödlich beeindruckt von ihm – denn Rossini hatte sich die Musikwelt vollkommen unterworfen, vor so etwas hatte Wagner einen Heiden­respekt. Er verachtete zwar die Schreiber von Arien, dem „auf Fläschchen gezogenen Parfüm“, das sich der gelangweilte Operngeher jederzeit unter die Nase halten kann. Aber für Rossini, der sich ohne irgendwelche musikdramatischen Prätentionen ganz radikal auf das Er­finden der „absolut melodischen Melodie“ verlegt hatte, machte er eine Ausnahme, der war für ihn ein großer Künstler. 

Ist ja nicht schlecht, wenn es gut riecht, und mit Herbert Fritsch haben Sie auch einen Meister des Pointe-Setzens als Regisseur gefunden.

Bogdan Roščić: Rossini hatte eben die Fähigkeit, das zu erfinden, was Wagner auch die narko­tisch-berauschende Melodie nennt, und sie den Sängern virtuos in die Kehle zu legen. Aber beim „Barbier“ funktioniert schon auch die komödiantische Ebene. Darum ist Herbert Fritsch auch so wichtig dafür. Wenn man einen „Barbiere“ schlecht macht, ist es Löwinger-Bühne. Aber wenn man einen Sinn hat für physisches Theater, für entfesselten, ernsthaften Slapstick, dann kommt so eine schwarze, bösartige Dimension dazu. Fritsch hat dafür eine Theater­maschine gebaut, wie ich sie noch nie gesehen habe. Er hat mit einfachsten Mitteln und einem gewissen Minimalismus eine Bühne gebaut – und es ist keine Drehbühne –, die immer neue, verblüffende Räume schafft.

Eine Oper wie eine unwiderstehlichen Lawine

Der „Barbiere“ ist doch eigentlich eine sehr hinterfotzige kleine Komödie.

Bogdan Roščić: So ist es. Und Herbert Fritsch nimmt Komik, Situationskomik, Präzision und Geschwindigkeit der Handlung, der Personenführung, so ernst, dass es irgendwann einmal zu einer unwiderstehlichen Lawine wird.

Sie holen mit Tom Morris einen Regisseur nach Wien, der mit „War Horse“ einen Smash-Hit ­gelandet hat. Wie kam das?

Bogdan Roščić: Ganz einfach. Ich habe „War Horse“ vor Jahren in New York gesehen und den Kontakt mit Tom Morris gesucht. Ich habe einen unheimlich gebildeten und belesenen Menschen vorgefunden, eine ganz angelsächsische Mischung aus Theater­prinzipal und Shakespeare-­Gelehrtem. Er hatte zu „L’Orfeo“ faszi­nierende Zugänge, und so haben wir uns schnell geeinigt, dass wir das machen. 

Tom Morris hat den Zugang zum Bühnenbild revolutioniert, den Bau von Maschinen. Er ist ein Zauberer des Lichts und der ­Bewegung. Was wird in Wien passieren?

Bogdan Roščić: Die Handlung des „L’Orfeo“ ist eines der großen Rätsel – Orpheus darf sich ja nicht nach Eurydike umdrehen, während er sie aus der Unterwelt hinausführt. Wir empfinden, dass da etwas Bedeut­sames über uns gesagt wird, und können nicht recht in Worte fassen, was. Vielleicht musste es darum die Form dieser Oper annehmen. Tom Morris erzählt das vollkommen schlüssig im Rahmen einer modernen Hochzeit, spektakulär auf zwei Ebenen. Mehr verrate ich nicht. (Lacht.)

Cecilia Bartoli erstmals an der Wiener Staatsoper

Dann ab in die Zielkurve: Endlich wird Cecilia Bartoli an der Staatsoper singen, warum hat sie das bisher ­eigentlich nicht getan?

Bogdan Roščić: Wer weiß das schon so genau, aber es ist schon bemerkenswert. Eine der weltweit wichtigsten und auch am meisten gefeierten Künstlerinnen ist noch nie an diesem Haus aufgetreten. Jedenfalls hat sie eigentlich sofort Ja gesagt, als ich sie gefragt habe. Vielleicht weil unsere Verbindung aus einer anderen Sphäre kommt. Ich war einmal Direktor eines Plattenlabels namens Decca Records in London, wo sie viele maßstabsetzende Aufnahmen gemacht hat. Der konkrete Anlass ist der 200. Jahrestag des Rossini-Wahnsinns in Wien. Und sie hat dafür als große Rossini-Autorität Carte blanche bekommen.

Es gibt eine Premiere, szenisch, von „Il Turco in Italia“, erstmals an der Staatsoper. Außerdem eine konzertante Vorstellung von ­„La Cenerentola“ und dann noch eine Gala, die mit einem wohltätigen Zweck verbunden ist, den Prinzessin Caroline von Monaco unterstützt. Denn Cecilias eigenes, auf diese Musik spezialisiertes Orchester, die Musiciens du Prince, sind das Hoforchester der Grimaldis. Vielleicht locken wir sie ja sogar nach Wien.

Damit wären wir bei der Society: Freude, dass der Opernball doch stattfinden wird?

Bogdan Roščić: Es wurde da und dort versucht, in meine bisherige Opernball-Abstinenz etwas hineinzuinterpretieren. Aber ich neige als sehr introvertierter Mensch eben zur stillen Beschäftigung und bin auf all die anderen Bälle auch nicht gegangen. Nun bin ich, sogar per Gesetz, verpflichtet, den Opernball auszurichten. Und daher wird er ganz großartig werden.

Zur Person: Bogdan Roščić

In Beograd geboren, in Linz aufgewachsen. Der 57-Jährige studierte Musikwissenschaften und Philosophie in Wien. Roščić war vor seiner Bestellung u. a. Chef von Sony Classical und damit einer der einflussreichsten Klassiklabel-­Manager der Welt.

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