Wir starten mit einem kleinen Rückblick. Im September 2013 gab die Volksoper Wien erstmals den Musical-­Thriller Sweeney Todd, komponiert von Stephen Sondheim. Der Weg zu dieser Entscheidung war ein verschlungener gewesen. Da Direktor Robert Meyer das Werk nicht näher kannte, borgte ich ihm erst einmal die Verfilmung von Tim Burton mit Johnny Depp in der Hauptrolle – ein im wahrsten Sinne des Wortes „bestechend“ gut gemachter Spielfilm, in dem zwar die Hälfte der Musik fehlt, aber jeder Gurgel­schnitt, den der „Teufelsbarbier aus der Fleet Street“ ausführt, in genussvoll blutrünstiger Großaufnahme gezeigt wird.

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Sweeney Todd gewann Musiktheaterpreis

Die direktoriale Reaktion nach Ansehen des Filmes war: „Nur über meine Leiche!“ Ich meinte, das ließe sich einrichten, Robert Meyer solle einfach den Richter Turpin, Sweeneys Todfeind, verkörpern und sich zum Ende im Barbierstuhl hinrichten lassen. Der Mut der Volksoper wurde jedenfalls belohnt: Sweeney Todd gewann 2015 den Österreichischen Musiktheaterpreis für die „Beste Produktion“.

Aber zurück in die Vorbereitungszeit. Der Musikverlag ließ mich wissen, dass Stephen Sondheim – eine offizielle Einladung der Volksoper vorausgesetzt – gerne nach Wien kommen würde. Ich lud ein und hörte einige Zeit nichts. Plötzlich ein Mail, in dem sich ­Stephen Sondheim für sein langes Schweigen entschuldigte. 

Nur Musical-Aficionados können begrei­fen, was es bedeutet, ein Mail von diesem Mann zu bekommen; gläubigen Katholiken mag es ebenso ergehen, wenn ihre Inbox eine Nachricht von einem gewissen ­Franziskus aufweist.

Der „Heilige Vater des Broadway“

Bald tauschten wir uns über Flugdaten, eventuelle Allergien (relevant für die Verpflegung an Bord) und Unterbringung aus, sodass ich mich schon richtig vertraut fühl­te mit dem Meister. In der Nacht vor seiner Ankunft ­hatte­ ich Einschlafschwierigkeiten. Wie sollte ich den „Heiligen Vater des Broadway“ be­grüßen? Ich entschied mich gegen 2 Uhr früh für „Welcome, Mr. Sondheim“ …

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Er kam, offenbar frei von allem Aberglauben, am 11. September in Schwechat an. Dank einer Sonderlegitimation drang ich bis zum Ausstieg des Jets vor. Mister Genie war verschlafen, sein grauer Bart zerstrubbelt, er trug ein ausgeleiertes Polo-Leiberl. Ich sagte zitternd: „Welcome, Mr. Sondheim.“ Er erkannte mich als seine Mail-­Bekanntschaft und meinte, ich möge ihn „Steve“ nennen. Plötzlich fühlte ich einen Jetlag in den Knien …

Beim Heurigen: Christoph Wagner-Trenkwitz, Stephen Sondheim, Dagmar Hellberg

Foto: Peter Strobl

Schön anziehen müssen sich in Wien nur die, die das Stück nicht geschrieben haben.

Christoph Wagner-Trenkwitz zu Stephen Sondheim

Eine von Steves ersten Sorgen war die Garderobe: Er hätte gehört, Premierenbesucher in Wien zögen sich fein an, aber „I did not bring a tie“. Er hatte, wie sich herausstellte, nicht nur keine Krawatte, sondern auch kein Hemd mit. Er wohnte der Premiere in einem (anderen) Leiberl bei, doch ich konnte ihn beruhigen: „Schön anziehen müssen sich in Wien nur die, die das Stück nicht geschrieben haben.“

Pflegeleichter Stephen Sondheim

Er war zauberhaft pflegeleicht und blieb es. Nach der Premierenfeier zum ­triumphalen Sweeney Todd warteten wir auf ein Taxi. Der vom guten Wein sehr gelöste Stephen Sondheim verkündete, ihm wäre ein Reim auf meinen Namen eingefallen: „Christoph, I’m pissed off.“ Ich bestand darauf, dass er diese Exklusivschöpfung auf einem gemeinsamen Foto verewigen müsste. Er tat es, allerdings in freundlich abgewandelter Form: nämlich dass er keineswegs „­pissed off“ (also „sauer“ auf mich), sondern „merely grateful“, einfach dankbar, war.

Die Stunden mit Steve (ja!) waren reich an Geschenken. Er philosophierte über klassische Musik („Rimski-Korsakow klingt genauso anspruchsvoll wie Ravel, kann aber von jedem Mittelklasse-Orchester gut gespielt werden“) und analysierte selbstkritisch seinen Sweeney Todd: „Die Richterszene ist mir nicht wirklich überzeugend gelungen. Aber wenigstens versteht man, dass nicht Gott die Katholiken bestraft – sie tun es selber!“

Bei einem Heurigenbesuch mit der ganzen Kompanie ließ sich der Meister Blunzenradeln, Grammelschmalzbrot und Veltliner schmecken und servierte dazu noch eine herrliche Broadway-Anekdote. Sein Musical Passion handelt von unerklärlicher leidenschaftlicher Liebe gegen jede Vernunft; es beginnt damit, dass eine nackte Frau auf einem Bett liegt. 

Die folgende Handlung bringt eine Vielzahl von Eindrücken – doch Barbra Streisand hatte nach der Uraufführung nur ein praktisches Detail im Sinn: „That naked lady …“, wandte sie sich an den Komponisten. Was sei mit der Nackten?, fragte Sondheim. Barbra präzisierte: „Where did she put the mike?“ („Wo hatte sie das Mikrofon?“).

Siebeneinhalb Jahre sind seit jenen Blunzen­radeln vergangen. Jetzt also Sondheims Into the Woods. Und wenn nicht jetzt, dann irgendwann später …

Christoph Wagner-Trenkwitz
Zur Person: Christoph Wagner-Trenkwitz ist Dramaturg, Musikwissenschafter, Buchautor und legendärer Opernball-Kommentator. Er war Intendant in Haag und ist seit 2009 Chefdramaturg an der Volksoper in Wien. Für die Bühne schreibt er monatlich eine Kolumne.

Foto: Peter Strobl

Zur Person: Christoph Wagner-Trenkwitz

Alter: 58 Jahre
Wohnort: Wien 
Biografie: Dramaturg, Musik­wissenschaftler, ­Buchautor (und legendärer Opernball-Kommentator). Er ist Intendant der Operette Langenlois und seit 2009 Chefdramaturg an der Volksoper in Wien.

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Christoph Wagner-Trenkwitz über Zeiten, als wir noch durften

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