Seine Inszenierungen wurden verbal vernichtet und physisch abgesetzt. Seine Alkohol- und Nikotinsucht sind ebenso legendär wie seine Ausbrüche bei den Proben. Sein Name lässt das Opernpublikum wohlig auf einen Skandal hoffen. Es sind fast mitleidige Blicke, die man bei der Erwähnung erhält, Hans Neuenfels zum Interview zu treffen. Blicke, die ins irritierte Flackern wechseln, wenn der Nachsatz folgt, dass man sich darauf freut. Kurz vor dem Termin dann der Anruf, dass Hans Neuenfels auf den Sitzungssaal der Staatsoper pfeift und lieber in den Schanigarten des Café Mozart geht. „Weil man dort rauchen kann.“ 

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Seine vielfach ausgezeichnete Stutt­garter Inszenierung der „Entführung aus dem Serail“ holt Direktor Bogdan Roščić ins Repertoire der Staats­oper. Der Hit daran: die Verdoppelung der Sängerrollen durch Schauspieler. Ein genialer Trick, um die Vielschichtigkeit der Figuren zu zeigen.

Welches charakterliche Spektrum Hans Neuenfels zu bieten hat und wie sehr er Oper und Wien liebt, erzählte er dann bei Zigaretten und zwei Vierteln Wein. Er ist gerade aus seinem Domizil in Altaussee nach Wien gekommen.

57 war ich damals, als ich Mozart entdeckte, für mich das größte Genie überhaupt."

1. Wie muss man sich diese Inszenierung vorstellen, wenn man alles doppelt sieht?

Hans Neuenfels: Der Sänger hat eine Singstimme, und dann gibt es den Schauspieler, der eine Sprechstimme hat. Jetzt muss der Sänger in Sekundenschnelle von der Singstimme in die Sprechstimme schalten, die eine vollkommen andere Technik entwickelt. Kaum ein Sänger kann das wirklich. Darum kommt dieses merkwürdige, unnatürliche Geknödel zustande.

Dazu kommt, dass viele Sänger sonst woher stammen, die Deutsch nur als Singsprache lernen, und das hat zur Folge, dass die Songs von Mozart immer einen Moment des Eingewöhnens brauchen, damit man die Schrecklichkeit dieser Dialoge, die dann entstehen, vergisst. Und das mindert die Genialität des Genusses und die Genialität der Lieder. Es braucht eine perfekte Form der Vermittlung, und da habe ich mir überlegt, was das bedeutet.

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57 war ich damals, als ich Mozart entdeckte, für mich das größte Genie überhaupt, und dem musste ich Rechnung tragen. Ich fand es legal, sich im Spiel mit sich selbst zu verdoppeln. Sich selbst zu ­befragen, sich zu umrunden, sich zu ergänzen, sich zu bekämpfen, sich zu erweitern und zu intensivieren. 

Schauspieler und Sänger wurden eins

2. Macht das die Sänger oder die ­Schauspieler, um es salopp zu formu­lieren, nicht völlig deppert, wenn immer jemand um sie herum ist?

Es war damals in Stuttgart bei den Proben festzustellen, dass die Sänger zuerst irritiert waren. Im Laufe der Wochen ist Unentbehrlichkeit entstanden. Da war dann plötzlich ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Sängern und Schauspielern. Das hat ganz groteske Züge angenommen, die in starke Herzlich­keit überging. Schauspieler und Sänger spielten wirklich miteinander und wurden eins. Es war eine ganz kolossale, fruchtbare Abhängigkeit voneinander. Da kam eine große Freude auf. 

Ich versuche diesen Zustand der Gelassenheit durchzuhalten, weil er der Sache dient."

3. Wie muss man sich das vorstellen: Greifen Sie in eine Lade und holen dort die Unterlagen der Inszenierung heraus und lesen nach?

Ich habe über vierzig Opern inszeniert, und es ist nach dem „Troubadour“ erst das zweite Mal, dass ich eine Oper noch einmal mache. Dieses Mal aber habe ich nichts vom Original verändert, weil ich die Inszenierung von damals so gelungen fand. Es gab einfach keinen Anlass, etwas zu verändern. Aber ich habe lange gebraucht, um Bogdan Roščić zuzusagen – fast eineinhalb Jahre. Wäre es nicht Mozart, dann hätte ich es auch nicht gemacht. Die Musik ist so toll, dass ich sie wahnsinnig gerne höre. 

4. Sie haben einmal über Ihre Art der Probenarbeit gesagt: „Ich erniedrige die anderen, ich fürchte, die Herrschaft zu verlieren, ich unterdrücke, ich verliere den Faden, ich isoliere mich, ich trinke.“ Weint schon jemand in der Staatsoper?

Nein. Nichts von alledem. Es herrscht eine heitere Altersstimmung (lacht).

Pädagogische Gelassenheit

5. Sind Sie altersmilde geworden?

Nein. Es besteht kein Anlass, auszurasten. Schauspieler und Sänger können ja bereits sehen, was andere gemacht haben. Die Überzeugungsarbeit fällt weg, weil ich einfach auf den Knopf drücke und sage: „Schaut euch doch einfach das Video der Ursprungsinszenierung an.“

Ich hab auch nicht das Gefühl, sie machen dann etwas nach, sondern sie kreieren sich in einem Zusammenhang, der ihnen gefällt. Das verlangt eine andere Geduld und auch eine ausgeglichenere Grundhaltung. Es ist ein Unterschied, ob man etwas verzweifelt sucht. Hier hat man es schon und muss es nur vermitteln. Es ist pädagogischer. Ich versuche diesen Zustand der Gelassenheit durchzuhalten, weil er der Sache dient. 

Verdoppelung: Bilder der 1998er-Inszenierung aus Stuttgart. Jede Rolle ist mit je einem Sänger und einem Schauspieler besetzt.

Staatsoper Stuttgart/Martin Sigmund

Die Mutter von Maria Schell gab mir eine so heftige Ohrfeige, dass ich in den Orchestergraben fiel und mir das Handgelenk brach.

6. Das war nicht immer so: Sie haben Schauspieler so weit getrieben,
dass Sie mehrfach geohrfeigt wurden. Haben Sie es verdient?

Sagen wir so: Ich habe es verstanden. Vor allem an die Ohrfeige von Bernhard Minetti erinnere ich mich noch gut. Er war weit über achtzig, und ich wollte ihm den Text streichen. Er schaute mich kurz an und war so sauer, dass er mir sofort eine schmierte. Das war so heftig, dass ich gegen die Türklinke geknallt bin. Und die Mutter von Maria Schell rastete so aus, dass sie mir eine derart heftige Ohrfeige gab, dass ich in den Orchestergraben fiel und mir das Handgelenk brach. 

7. Finden Sie als Choleriker eine derartige Reaktion lustig?

Eigentlich schon. 

8. Die Inszenierung älterer Regisseure nannten Sie „fettes Gewatschel“. Jetzt sind Sie selbst fast achtzig: Sehen Sie Ihre eigenen Inszenierungen auch so?

Ich habe ein Stück geschrieben, das in München uraufgeführt wird, und das wird eine Antwort auf Ihre Frage geben. Es ist ein sehr wildes, freches Stück. 

Meine Frau und ich gingen oft auf verschiedenen Straßenseiten zur Probe."

9. Sie haben auch gesagt: „Ich werde abtreten, wenn der Blutdruck wichtiger ist als ein Vers von Kleist.“

Dann müsste ich bereits abtreten. Den Blutdruck kriege ich noch hin. Aber ich kann nicht sagen, dass ich als Naturbursche herumgehe. Die Nieren machen mir Probleme, aber das hat nichts mit dem Trinken oder Rauchen zu tun, sondern mit dem Mopedfahren ohne Nierenschutz in meiner Jugend.

Hans Neuenfels über Präsenz und Alkohol

10. Sie haben in vielen Interviews gesagt, dass Sie sehr gerne während der Arbeit trinken …

Ich habe früher mit Lust getrunken, war aber immer völlig präsent. Ich war sehr selten abwesend oder nicht brauchbar. Wenn ich diesen Zustand erreicht hatte, dann verschwand ich auch und ging ins Bett. Ich musste auch ins Bett, als Frau Merkel mich bei einer Premierenfeier in Bayreuth sehen wollte. Ich blieb hinter der Bühne sitzen, trank und ging dann ab.

11. Ihre Frau, die Schauspielerin Elisabeth Trissenaar, schrie einmal bei einer Probe: „Ich bin mit einem Schwein verheiratet!“

Das war bei „Medea“. Ich wollte, dass sie Kreon eines ihrer Kinder zum Vögeln anbietet. Da ist sie ausgerastet. Das wurde dann eine Kultaufführung (lacht). Aber wir haben viel gestritten. Oft gingen wir auf verschiedenen Straßenseiten zur Probe.

Den Blutdruck hat er im Griff, aus seiner Leidenschaft machte Hans Neuenfels aber zu keiner Zeit ein Geheimnis. Daher bat er zum BÜHNE-Interview auch in den Schanigarten des Café Mozart: „Weil man dort rauchen kann.“

Foto: Atha Athanasiadis

12. Sie waren mit Klaus Maria Brandauer befreundet und dann zerstritten. Wie ist der Stand Ihrer Beziehung jetzt? 

Wir sind wieder sehr befreundet. Es ist eine große Freude, sich mit ihm zu ­ unterhalten, es ist richtig schön. Unsere Freundschaft hat diese Pause gebraucht.

Plötzlich wieder voller Temperament

13. Sie waren zuerst Dichter und dann Regisseur. Warum? Ist Ihnen nichts mehr eingefallen?

Ich habe hier in Wien in der Brunnengasse gewohnt. Eines Abends wollte ich an Prosa arbeiten, und ich merkte, mein Schreiben ist dünn. Und dann bin ich spazieren gegangen und habe mich gefragt: Was willst du eigentlich sagen? Vielleicht hast du schon alles gesagt.

Und dann bin ich am nächsten Tag zum Direktor gegangen und habe gesagt: Warum wird in der Regieklasse nicht ein Stück von uns gemacht? Ich war plötzlich voller Temperament und aktiv. Ganz anders als sonst, wo ich eher kraftlos herumgeschlurft bin. Und da habe ich gemerkt, dass ich besser im Interpretieren bin. Ich schreibe noch immer, aber nicht mit der Verpflichtung, publiziert zu werden.

Zur Person: Hans Neuenfels

Verheiratet mit: Elisabeth Trissenaar. Sein Sohn Benedict Neuenfels ist preisgekrönter Kameramann. „Die Entführung aus dem ­Serail“ ist eine Produktion aus dem Jahr 1998 und wird ins Repertoire der Wiener Staatsoper aufgenommen.