Ruinierte Hochzeit. An einer Kurzversion der vieraktigen Opera buffa von Wolfgang Amadeus Mozart, bei deren Erdichtung Librettist Lorenzo Da Ponte möglicherweise köstliche Pilzgerichte zu sich genommen hat, sind schon manche gescheitert. Zu viele Irrungen verunmöglichen die inhaltliche Reduktion, zu viele Einfälle verhindern einen roten Faden. Selbst mit Rollen betrautes gesangliches Fachpersonal tut sich dabei oft schwer.

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Trotzdem ein Versuch – mit minimalistischem Anspruch. Figaro, Kammerdiener des Grafen Almaviva, plant seine Hochzeit mit Susanna, Kammerzofe der Gräfin. Der dauerlüsterne und nicht eben treue Almaviva bedauert, das Jus primae noctis aufgegeben zu haben, und bedrängt Susanna beharrlich. Der Page Cherubino hat nicht nur Interesse an Barbarina, Tochter des Gärtners, sondern an den meisten weiblichen Wesen, ist aber selbst so feminin, dass ihn die Damen gerne mit Kleidern ausstatten, um dem Grafen eine Lektion zu erteilen.

Figaro will die Absichten Almavivas nämlich unbedingt vereiteln. Zudem taucht auch noch Marcellina in Begleitung von Doktor Bartolo auf und meldet ihre ehelichen Ansprüche bei Figaro an. Später wird sie sich als dessen Mutter erweisen, denn Figaro wurde als Kleinkind geraubt. Nach einer Vielzahl weiterer Missverständnisse bekommt Figaro endlich seine Susanna – und der Graf muss die Gräfin um Verzeihung bitten.

Ein höchst vergnügliches Tohuwabohu, aber auch ein Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen Macht und Missbrauch nahe beieinanderliegen, woran sich seit Mozarts Zeiten wenig geändert zu haben scheint. Außer, dass Frauen bei der Abwehr unerwünschter Avancen heute nicht mehr nur Raffinement beweisen müssen, sondern auch Rechte haben. Noch, und auch nicht überall.

Lotte de Beer zeigte ihre Interpretation von „Le nozze di Figaro“ erstmalig 2021 in Aix-en-Provence und feiert damit nun an der Volksoper Premiere.

Arm und Reich

„Le nozze di Figaro“ ist eine der weltweit meistgespielten Opern Mozarts, wofür es gute Gründe gibt. „Die Geschichte ist deshalb so großartig, weil sie von zwei Welten handelt, zwischen denen wir dreieinhalb Stunden lang permanent hin und her springen“, analysiert Jaye Simmons, zu sehen in der Rolle der Barbarina, den jahrhundertelangen Erfolg.

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„Da gibt es auf der einen Seite die mächtigen Wohlhabenden und auf der anderen die einfachen Angestellten. Trotz aller Unterschiede interagieren diese Menschen aber ständig miteinander, ihre Wege kreuzen sich permanent, sie haben ein gemeinsames Thema. Auf beiden Seiten des Spektrums herrschen Verwirrung und Chaos, es werden Komplotte geschmiedet und Geheimnisse bewahrt. Das ist höchst amüsant zu beobachten.“

Das Begünstigungssystem, bei dem eine Hand die andere wäscht und das nie ganz sauber ist, existiert seit jeher.

Jaye Simmons, Opernsänger*in (they/them)

Lauren Urquhart spielt Susanna und weist darauf hin, dass Mozarts Opern einen Teil ihrer Faszination überhaupt aus dem Umstand bezögen, dass der Komponist immer auch Klassenunterschiede thematisiert.

„Das gräfliche Paar ist in diesem Fall immens reich an Geld und Einfluss. Aber Figaro und Susanna sind wohl die klügsten Figuren auf der Bühne, die hinter den Kulissen herumschwirren, alles in Gang bringen und die Handlung vorantreiben. Susanna ist eigensinnig, anpackend und sehr direkt, aber auch liebevoll und einfühlsam. Sie versucht, die Psyche der Gräfin stabil zu halten, ihre Beziehung zu Figaro, der so misstrauisch ist, fortzuführen, den Grafen abzuwehren und trotzdem zuversichtlich zu bleiben. Sie ist in gewisser Weise die ältere Version von Barbarina.“

Physisch und stimmlich für Lauren Urquhart eine echte Herausforderung.

„Susanna ist eine der längsten Sopranrollen überhaupt. Die Tatsache, dass ich im Grunde das ganze Stück auf der Bühne stehe und dennoch schöne, elegante hohe Töne und Linien singen muss, ist eine Challenge. Aber ich weiß aus Erfahrung – ich habe Susanna schon in zwei anderen Produktionen gesungen –, dass auf der Bühne im Team eine ungeheure Energie freigesetzt wird, die einen trägt.“

Und obwohl Barbarinas Part nicht so groß ist, spielt sie gegen Ende des Stücks eine Schlüsselrolle. „Sie ist jung und impulsiv, weiß aber genau, wann sie Informationen weitergeben und wann sie diese besser zurückhalten sollte“, so Jaye Simmons.„Auch wenn sie nicht viel singt, hat ihr Mozart, wie allen Sopranen, eine wunderschöne Musik geschrieben. Wann immer ich das Gefühl habe, mich wieder in ein Gleichgewicht bringen zu müssen, ist Mozart generell erdend.“

Jaye Simmons
Jaye Simmons: Geboren in Baltimore (USA); Bachelor- und Masterstudium Gesang an der Juilliard School New York, Abschluss 2020; 2021 Auszeichnung mit dem Met Opera Laffont Encouragement-Preis; von 2022 bis 2024 im Opernstudio der Volksoper Wien; in dieser Saison an der Volksoper zu sehen als Flamma in „Die Reise zum Mond“, Maria in „West Side Story“ und Papagena in „Die Zauberflöte“.

Foto: Christoph Liebentritt

Themen für die Ewigkeit

Lotte de Beers Inszenierung ist ganz im Heute verankert. Sind zeitgenössische Referenzen mittlerweile unerlässlich geworden in der Welt der Oper?

„Wir spielen meist Stücke, die vor mehreren hundert Jahren geschrieben wurden“, antwortet Lauren Urquhart.

„Viele Leute haben die Vorstellung, dass diese nicht mehr aktuell wären, aber das ist falsch. Ich denke, dass die Themen, die in den Stücken behandelt werden, wie in diesem Fall Macht und Sex, so grundlegend menschlich sind, dass sie immer relevant bleiben werden. Ich bin keine Puristin, und es gibt sicherlich immer Möglichkeiten, Geschichten neu zu interpretieren, aber ich glaube, dass die Verbindung zum Originalwerk erhalten bleiben muss. Ich als Schauspielerin versuche zumindest, diese in allen Produktionen aufrechtzuerhalten.“

Auch Jaye Simmons hat dazu eine klare Meinung. „Wenn man versucht, zu sehr am Stoff zu rütteln, verliert man den Charme des Stücks. Der Austausch von Macht – dieses Begünstigungssystem, bei dem eine Hand die andere wäscht und das nie ganz sauber ist – existiert seit jeher. Mozart wusste, dass niemand davon verschont bleibt, auch er selbst nicht, und wollte das den Leuten ins Gesicht sagen. Seitdem hat sich nichts verändert, die Probleme sind die gleichen geblieben, sie manifestieren sich nur auf andere Weise. Wir sind in Bezug auf die Themen, die wir öffentlich und privat besprechen, viel offener geworden. Und diese Realität unserer Zeit auf der Bühne zu zeigen, ist konsequent und ehrlich.“

Ist „Le nozze di Figaro“ also eher eine Komödie oder ein #MeToo-Stück?

„Es kann und muss beides sein“, so Lauren Urquhart. „Diese absurde Handlung, die kaum jemand versteht, mit all ihren Charakteren, ist Commedia dell’arte in Reinkultur. Würde man diese Tatsache leugnen, ginge vieles an Reiz verloren. Gleichzeitig gibt es darin Thematiken, die Kommentare zum Feminismus oder zu #MeToo geradezu herausfordern. Ich #nde aber, dass man diese nicht von der Komödie trennen sollte.“

Lauren Urquhart
Lauren Urquhart: Geboren in Connecticut (USA); Gesangsstudium an der Blair School of Music der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee; 2018 1. Preis Junior- und Seniorkategorie beim NATS-Gesangswettbewerb, USA; seit der Saison 2019/20 fixes Ensemblemitglied der Volksoper; in dieser Saison an der Volksoper u. a. zu sehen als Manon in „Alma“, Adele in „Die Fledermaus“ und Anna Reich in „Die lustigen Weiber von Windsor.“

Foto: Christoph Liebentritt

Unterschiedliche Werdegänge

Jaye Simmons’ musikalische Vita ist nahezu klassisch. „Ich habe ab meinem zehnten Lebensjahr eine Schule für darstellende Künste besucht, im Orchester gespielt, getanzt und gesungen. Danach habe ich eine entsprechende Highschool absolviert und bin später auf die Juilliard School in New York gegangen, wo ich schließlich meinen Master gemacht habe. Musik war immer Teil meines Lebens, öffentliche Auftritte in größerem Rahmen absolviere ich, seit ich 17, 18 Jahre alt war. 2022 bin ich an die Volksoper gekommen und fühle mich hier sehr wohl.“

Lauren Urquharts Weg verlief ein wenig anders.

„Ich habe als Kind gemeinsam mit meinem Dad Popsongs gesungen; er hat manchmal Videos davon gemacht und auf YouTube gestellt. Vor wenigen Jahren hat mich mein Manager angerufen und gemeint, wir hätten ein Problem: Würde man meinen Namen googeln, käme als Erstes ein Clip, bei dem ich als Elfjährige Jordin Sparks’ ,No Air‘ sänge“, sagt sie und lacht noch heute.

"Also haben wir die Videos vom Netz genommen. Später habe ich dann in der Kirche gesungen, Bands gegründet und bin einem Chor beigetreten. Dort wurde mein Talent erkannt, sodass ich mit fünfzehn begonnen habe, Gesang zu studieren. Es war dann schnell klar, dass ich Oper zu meinem Beruf machen wollte und auch, dass Europa dafür viel mehr Möglichkeiten bieten würde als die USA. Jetzt arbeite ich schon seit 2018 an der Volksoper und habe jeden einzelnen Tag Spaß daran.“

Jaye Simmons und Lauren Urquhart
Viel gemeinsam. Jaye Simmons und Lauren Urquhart sind nicht nur fix an der Volksoper engagiert, sondern teilen sich auch eine Wohnung. Da beide Sopran sind, überschneidet sich manchmal auch ihr Repertoire.

Foto: Christoph Liebentritt

Was mögen die beiden an Wien besonders?

„Die Antwort ist einfach“, so Lauren Urquhart. „Den öffentlichen Verkehr, die Gesundheitsversorgung und die Größe der Stadt. Es gibt Gegenden, die urban sind, und andere, in denen es relaxter zugeht. Ich habe mich vom ersten Moment an hier zu Hause gefühlt.“

„Bei mir hat die Aufwärmphase länger gedauert“, sagt Jaye Simmons schmunzelnd. „Der Tag, an dem ich, direkt aus New York kommend, in Wien gelandet bin, war ein Sonntag. Nichts hatte offen, alles war still, ich dachte, wo bin ich da? Und jetzt, nach drei Jahren, liebe ich genau das. Ich habe diese entspannte Energie in meinen Lebensstil integriert und würde liebend gerne noch sehr lange bleiben.“

Karrieretechnisch stehen die Sterne dafür jedenfalls günstig.

Hier zu den Spielterminen von Le nozze di Figaro in der Volksoper!