Alles möglich, nichts fix – ein weites Land
Wie werden Klassiker wie „Das weite Land“ auf die Bühne gebracht? Wie die Charaktere entwickelt? Wie wird das Stück ins Jetzt geholt? Wir haben Johanna Mahaffy und Bernhard Schir bei der Arbeit auf der Probebühne besucht.

Foto: Hilde van Mas
Anfang kann jeder. Beginnen wir also einfach mal mit der letzten Szene eines der berühmtesten deutschsprachigen Theaterstücke aller Zeiten: Arthur Schnitzlers „Das weite Land“. Der ältere Fabrikant Hofreiter steht am Berg mit der jungen Erna. Sie haben sich gerade geküsst. Er kennt sie, seit sie ein Kind gewesen ist. In den vergangenen zwei Stunden sind zwei Menschen gewaltsam ums Leben gekommen. Es wurde gelebt, geliebt, betrogen. Alles unerfreulich, aber auch amüsant.
Erna: Friedrich, wir gehören zusammen.
Friedrich: Das ist Täuschung. Alles ist Täuschung. Aus – Erna, auch zwischen uns. Du bist zwanzig, du gehörst nicht zu mir.
Erna: (immer auf demselben Platz) Du bist jünger als alle.
Friedrich: Still! Ich weiß, was Jugend ist. Es ist noch keine Stunde her, da hab’ ich sie glänzen gesehn und lachen in einem frechen, kalten Aug’.
Erna: (jetzt etwas näher zu ihm) Glaube mir, Friedrich, ich liebe dich, ich gehöre dir.
Friedrich: Ich gehör niemandem auf der Welt. Niemandem. Will auch nicht...
(Rasch hinaus. Erna bleibt stehn.)
Darum geht’s
Bahnhof? Wir ordnen: Es ist die Geschichte des Fabrikanten Friedrich Hofreiter (Bernhard Schir), der mit Genia (Maria Köstlinger) verheiratet ist, aber jeder Frau, derer er auch nur irgendwie habhaft werden kann, nachstellt. Am Anfang bringt sich der Pianist Kosakow um, am Ende stirbt Otto (Tobias Reinthaller), ein junger Offizier, bei einem Duell. Beide waren Rivalen Hofreiters, beide sterben, weil sie Genia lieben. Ist Hofreiter schuld an deren Tod? Das bleibt unklar. Er jedenfalls verliebt sich in die viel jüngere Erna (Johanna Mahaffy), in die sein Freund Dr.Maurer (Marcus Bluhm) jedoch ebenso verliebt ist.

Foto: Hilde van Mas
Mitten in die Proben
Das Theater in der Josefstadt hat uns (und damit auch Ihnen) ein großes Geschenk gemacht und uns bereits am dritten Probentag in die Probebühne gebeten; zu einem Zeitpunkt also, an dem noch alles im Fluss und Entstehen ist. Warum das besonders ist? Weil gerade bei einem Stück, das derart oft zu sehen ist, eine Produktion mit der Interpretation der Figuren steht und fällt. Die Vorgaben für Regie und Schauspiel sind steil: Alle Großen des Theaters haben sich am „Weiten Land“ abgearbeitet und versucht.
Schnitzlers Inneres
Grundsätzlich ist das Werk ganz auf die zentrale Figur Hofreiters konzentriert. Er, der das Spiel liebt, das Abenteuer sucht, den Genuss – und dabei emotional völlig Zuschauer bleibt, ist ein bisserl wie Schnitzler selbst. So schreibt der als 18-Jähriger ins Tagebuch: „Ich bin mir selbst zuwider. – Mein Gemüt geht leer aus – oder was im Gemüt ist, drängt sich krankhaft vor. (...) Wesenlosigkeit des Lebens! Wie doch alles nur geschieht, der Langeweile zu entfliehen.“
Fast dreißig Jahre später – er hat gerade seiner zwanzig Jahre jüngeren Frau Olga das fertige Werk vorgelesen, und sie dürfte etwas verhalten reagiert haben – schreibt er: „Exposition matt, noch manches schnarrende im Dialog – als ganzes mein bestgebautes Stück, eine glänzende und so gut wie neue Hauptgestalt, inhaltlich viel zukunftsweisendes; in Nebendingen manches conventionell und billig.“ Dem Publikum gefällt’s. Am Wiener Premierenabend wird er 24-mal vor den Vorhang geholt. Der Welterfolg beginnt.

Foto: Hilde van Mas
Das sagt Bernhard Schir
„Für mich ist es seit zwanzig Jahren eine Wunschrolle, und ich habe schon befürchtet, dass ich sie verpasst habe“, sagt Bernhard Schir und lächelt. „Schnitzler hat mit Hofreiter eine Figur geschaffen, die in ihrer Radikalität mit nichts vergleichbar ist. Er ist ein Seelensezierer, und da ist auch noch so ein tiefer Blick in den eigenen Männerspiegel. Jeder Mann wird etwas in dem Stück finden, wo er sagt: Das hat etwas mit mir zu tun! Das ist grandios, es hat wie jedes große Kunstwerk eine Allgemeingültigkeit. Das, was hier verhandelt wird, geht jeden an.“
Schir sagt über seinen Hofreiter, dass er „irrsinnig lebendig, kräftig und gesteuert von seinen Trieben“ ist.

Foto: Hilde van Mas
Suche nach Schnitzlers Melodie
Was derzeit in der Josefstadt passiert, nennt man im Theater Rollenarbeit: „Sie ist zeitintensiv, und ich hoffe wirklich, dass wir unsere Arbeit so gut wie möglich machen und unsere Figuren so tief ausloten und so verteidigen, dass es fürs Publikum möglich ist, für wirklich alle Charaktere Empathie zu empfinden und durchs Zuschauen etwas zu verstehen. Und wenn jemand Empathie emp!ndet und lernt, die bereits vorhandene auszubauen – dann haben wir gewonnen.“
Aber ab wann wird man als Bernhard Schir zum Friedrich Hofreiter? „Dann, wenn alles, was er sagt und denkt, zu deiner Stimme, zu deinen Gedanken wird. Schnitzler hat alles sehr exakt komponiert – seine Sprachmelodie musst du als Schauspieler nachsingen. Das bedarf guter Vorbereitung.“
Probieren und probieren und ...
Bernhard Schir beginnt den Satz „Jetzt sag schon, was war zwischen dir und Korsakow“ einmal drohend und einmal leise fordernd zu sprechen: „Das sind zwei vollkommen verschiedene Grundsituationen, beide sind möglich, man lotet aus, und das Stimmigere bleibt über. Es gibt kein Richtig und kein Falsch. Es geht um die Präzision der Musikalität und ums Umsetzen der Melodie bei Schnitzler, der dir den Rhythmus, die Lautstärke und die Gedankenumbrüche vorgibt. Das muss man raussuchen, analysieren und ausprobieren.“

Foto: Hilde van Mas
Johanna Mahaffy und ihre Erna
Wir schauen Johanna Mahaffy ein wenig dabei zu, wie sie fotografert wird. Bewundernswert, wie sie es schafft, das Leuchten ihrer Augen an- und auszuknipsen. Vor ihr liegt Schnitzlers Tagebuch. Sie hat es gelesen und farbige Post-Its hineingeklebt. Hofreiter verfällt Erna, will sie heiraten, sie lehnt ab. Wir reden über die Schlussszene, die wir am Anfang wiedergegeben haben.
Einfach mal den Mund halten
„Das Einzige, was gewonnen wird, ist die Erkenntnis ganz am Schluss, mit dem Satz vom Hofreiter: ‚Ich gehöre niemandem.‘ Wenn er schon davor seine Besitzansprüche beiseitegelegt hätte, dann wäre vieles nicht passiert, und vor allem wäre Otto noch am Leben. Das Zeitlose an dieser Szene ist, dass Menschen einfach ungleichzeitig sind.“
Johanna Mahaffy denkt kurz nach: „Erna selbst ist der freieste Mensch von allen. Sie sagt ja ‚Ich gehöre dir‘. Das könnte man als Verlieren deuten, aber es ist ein Liebesgeständnis, und er hätte vielleicht einfach nur den Mund halten müssen.“

Foto: Hilde van Mas
Die Schauspielerin lacht. „Erna ist von klarer Direktheit, unbefangen. Ein Freigeist. Sie hält nichts von Konventionen. Sie ist die einzige Figur in diesem Stück, der es egal ist, was die anderen denken. Erna lebt ihre Auffassung von Liebe, sie ist standhaft – ich bewundere das. Und sie ist eine große Projektionsfläche, sie ist für die Männer im Stück das Sinnbild von Lust und Abenteuer. Aber – und das ist das Wunderbare an dem Stück – sobald die Frauen aus dieser Projektion herauskraxeln, sind sie emanzipiert, selbstbestimmt und konsequent.“
Ein Stück der starken Frauen?
Ein Männerstück, sagt man, sei „Das weite Land“. Mahaffy lächelt: „Hofreiter will einfach geliebt werden, und er ist gleichzeitig von Verlustängsten und Eifersucht getrieben. Er erwartet von seiner Frau Dinge, die er selbst nicht erfüllen kann. Er kann einem schon fast leidtun.“
Warum aber lieben jüngere Frauen oft ältere Männer? Mahaffy zuckt mit den Schultern.„Vielleicht spielt der Altersunterschied keine so große Rolle, sondern einfach, in welchen Menschen man sich verliebt. Ich persönlich als Johanna würde dem Hofreiter nicht in die Falle gehen ...“

Foto: Hilde van Mas/ STYLING: JOHANNA: MANTEL VON JENNIFER MILLEDER, KORSAGE VON STUDIO TERRIBLE, SHORTS VON DOLCE&GABBANA BEIDES VIA MINAMINOU, STRUMPFHOSE VON FALKE, HEELS VON POURAN PARVIZI; BERNHARD: KRAWATTE STYLIST ́S OWN, HEMD VON ETERNA, PULLOVER VON FORÈT UND HOSE VON ANNARR BEIDES VIA PEEK&CLOPPENBURG, BOOTS VON SCAROSSO
Exklusivität der Liebe
Und was ist für sie, als junge Frau, die Zeitlosigkeit des Stücks?
„Schnitzler beschreibt die Paradoxie der Liebe. Einerseits, dass der Mensch immer nach Freiheit und Autonomie in der Liebe sucht. Liebe kann nur authentisch und echt sein, wenn sie freiwillig und ohne Besitzanspruch passiert. Anderseits aber will man Sicherheit und Exklusivität. Ich glaube, das ist genau das Thema. Schnitzlers Figuren sind getrieben von Eifersucht, Untreue, Begierde, Narzissmus und Egoismus. Das sind alles zeitlose Themen.“

Foto: Philipp Horak
Der Herr Regisseur
Janusz Kica führt Regie. Er gehört zum Kreativ-Inventar der Josefstadt. Er kann Komödien (u. a. „Trilogie der Sommerfrische“) und Tragödien (u. a. „Leopoldstadt“). Flapsig gesagt: Jetzt macht also auch er den Klassiker.
Kica lächelt die Frechheit weg: „Da wir keine Archäologen sind und nichts rekonstruieren, sondern aus unserer heutigen Sicht an das Stück herangehen, wird das schon eine andere Inszenierung. Gut, ein wenig informiert solle man schon sein (lacht). Dieses Stück ist so nah an unseren Eitelkeiten, Schwächen, unserer Paranoia, unseren Ängsten. Es beschäftigt sich mit dem, was wir alle kennen – und das sind auch Zweierbeziehungen. Nehmen wir den Größenwahn des Fabrikanten Hofreiter: Es gibt auch heute solche Menschen, die versuchen über die Geschicke der Welt zu entscheiden.“
Er atmet kurz ein. „Wenn man die Sekundärliteratur liest, dann gelten die Frauen in dem Stück als schwach. Ich sehe das nicht so. Erna ist radikal, frei, intelligent. Und Genia? Sie spielt ein Spiel, fast wie in ,Gefährliche Liebschaften‘. Und geht nicht auch der Tod von Otto und Korsakow auf ihr Konto? Würde er leben, wäre sie mit ihm ins Bett gegangen, vulgär ausgedrückt?“
Ja, vielleicht wird „Das weite Land“ dieses Mal aus der Perspektive von Hofreiters Frau gezeigt – vielleicht aber auch nicht.
Es ist erst der dritte Probentag.
Nichts ist fix. Alles möglich. Ein weites Land – auch das Theater.