Volles Stahlrohr voraus! Der »Wassily Chair« wird 100
Inspiriert von einem Fahrradlenker, baute Marcel Breuer vor 100 Jahren das erste Möbelstück aus Stahlrohr. Der Stuhl, mittlerweile als »Wassily Chair« weltberühmt, prägt bis heute das moderne Möbeldesign. Eine kleine Würdigung.

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Reduziert auf das Wesentliche und doch ikonisch: Der »Wassily Chair« – ein Meisterwerk aus Stahl, Leder und Leichtigkeit wird 100.
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Entstehungsmythen sind eine faszinierende Angelegenheit. Denn ganz gleich, ob sie sich exakt so zugetragen haben oder nicht – sie erzählen viel über das Wesen der Sache, die sie betreffen. Nehmen wir zum Beispiel die legendäre »Birkin Bag« von Hermès. Deren Entwurf, so heißt es, entstand auf einem Flug von Paris nach London: Jane Birkin hat ihn mit Jean-Louis Dumas, dem damaligen Hermès-Chef, auf das Papier einer Kotztüte gekritzelt, verriet die 2023 verstorbene Schauspielerin vor einigen Jahren dem britischen »Telegraph«.
Weniger dramatisch, aber ebenso symbolträchtig ist die Legende zur Geburtsstunde des ersten Stahlrohrmöbels in der Designgeschichte: dem »Clubsessel B3«. Marcel Breuer, einer der prägendsten Bauhaus-Gestalter und Pionier moderner Möbel, hatte nämlich die zündende Idee dafür beim Fahrradfahren. Der leidenschaftliche Radler betrachtete fasziniert den gebogenen Stahlrohrlenker seines Drahtesels. Der war leicht, stabil und ließ sich formen. Was sich Breuer konkret dabei dachte, ist nicht überliefert. Aber der Funke sprang über: Warum nicht Möbel aus demselben Material bauen? Denn damals in den 1920er-Jahren waren Sitzmöbel noch schwer, hölzern und reich gepolstert – mehr Statussymbol als funktionales Objekt. Breuer begann deshalb am Bauhaus in Dessau, mit Stahlrohr zu experimentieren. Sein Ziel: ein modernes Sitzmöbel, das Leichtigkeit und Transparenz ausstrahlt. Die Idee einer »federnden Luftsäule« war geboren. Und ein Gestell aus gebogenem, nahtlos verschweißtem Stahlrohr, das mit unterschiedlich breiten Streifen aus Leder, Stoff oder Leinwand bespannt wurde, kam dieser Idee am nächsten. Sitzfläche, Rücken- und Armlehnen schwebten regelrecht im Raum. Minimalistisch, fast skelettartig – und dennoch bequem. Der »Clubsessel B3« war geboren.
Breuers Entwurf beeindruckte sogar den Maler Wassily Kandinsky, der damals ebenfalls Teil des Bauhauses war. Der Legende nach war der russische Maler so begeistert, dass er sich sofort ein Exemplar für seine Wohnung in Dessau sicherte.
VOM BAUHAUS ZUR IKONE
Jedenfalls gründete Marcel Breuer gemeinsam mit Kálmán Lengyel in Berlin die Firma Standard Möbel zur Produktion und Vermarktung von Stahlrohrmöbeln – darunter auch der »Clubsessel B3«. Die meisten Entwürfe stammten dabei von Breuer. 1929 wurde das Unternehmen an Thonet verkauft, wenig später die Produktion eingestellt.
Wegen der politischen Lage emigrierte Breuer Anfang der 1930er-Jahre zunächst in die Schweiz, dann nach England und schließlich in die USA, wo er sich international vor allem als Architekt einen Namen machte. Ganz ließen Breuer der Möbelbau und die Idee des »B3« nicht los und so wollte er Ende der 1950er-Jahre seiner Konstruktion gemeinsam mit einem Schweizer Unternehmer neues Leben einhauchen. Der Versuch scheiterte grandios: Zwei Exemplare wurden verkauft, eines verschenkt, drei verschrottet – gegen Gebühr. Das Bauhaus-Design galt als überholt, zu kühl, zu technisch.
Der italienische Möbelproduzent Dino Gavina ließ sich davon nicht abschrecken und legte dann 1962 gleich mehrere vonBreuers Bauhaus-Entwürfen neu auf – in vierstelliger Stückzahl. Der »B3« war auch darunter, erhielt aber aus Marketinggründen einen neuen Namen: »Wassily Chair« – zu Ehren von Kandinsky, wie bereits erwähnt Fan der ersten Stunde dieses Clubsessels. Breuer und Gavina griffen dann zusätzlich noch tief in die strategische Trickkiste, um die Popularität des Sessels zu steigern. Sie verteilten ausgewählte Exemplare an gut vernetzte Persönlichkeiten der Kulturszene. Quasi das Influencer-Marketing von damals. Und die Faszination für den »Wassily Chair« hält bis heute an – fast 100 Jahre nachdem ein Fahrradlenker die moderne Möbelwelt revolutioniert