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Skandinavische Design: Im Norden viel Neues

Interior Design

Skandinavisches Design bringt Funktion und Schönheit in Einklang – und ist dabei mehr Design-Philosophie denn Trend. Doch wo liegen die Ursprünge von Scandi-Chic, was macht ihn so einzigartig, und warum fasziniert er seit Generationen? Annäherung an eine Erfolgsgeschichte, die nicht nur aus klaren Linien und minimalen Formen besteht.

Es gibt nur wenige Designstile, die sich so tief ins kollektive Bewusstsein eingeprägt haben wie das skandinavische Design. Kein Hochglanzmagazin und schon gar kein Social-Media-Feed kommt heute mehr ohne skandinavische Wohnlandschaften aus. Und während sich Trends im Minutentakt ändern, bleibt skandinavisches Design dabei irgendwie beständig. Vielleicht weil man es mit einer Symbiose aus eleganter Zurückhaltung, funktionaler Klarheit und durchdachter Ästhetik zu tun hat. Vielleicht weil das alles auf äußerst soliden Beinen steht. So oder so, dass Scandi-Chic die Welt erobert hat, ist alles andere denn eine Überraschung.

Back to the Roots

Der weltweite Erfolg kam dabei nicht über Nacht, sondern ist das Ergebnis einer langen Entwicklung, deren Wurzeln zurück ins späte 19. Jahrhundert reichen. Damals befand sich Europa in einem gestalterischen Umbruch. Während der Modernismus als Antwort auf die industrielle Revolution entstand, rief William Morris in Großbritannien die »Arts and Crafts«-Bewegung ins Leben. Sie stellte im Gegensatz zum maschinellen Massenprodukt das traditionelle Handwerk in den Mittelpunkt und legte damit auch den Grundstein für den skandinavischen Stil.

Skandinavische Handwerker:innen griffen nämlich diesen Ansatz auf, entwickelten ihn aber in eine alltagstauglichere Richtung weiter. Im Gegensatz zum oft ornamentalen Jugendstil, der der wohlhabenden Oberschicht vorbehalten war, sollte nordisches Design
funktional, erschwinglich und für jedermann zugänglich sein. Diese Philosophie setzte sich im 20. Jahrhundert fort und mündete schließlich in einer eigenständigen Designbewegung, die weltweit Anerkennung fand. Soweit der Schnelldurchlauf.

Sitzt perfekt. Cecilie Manz ist der Superstar unter den zeitgenössischen Designer:innen aus dem hohen Norden. Ihre Arbeiten zeichnen sich durch eine subtile Eleganz und starke gestalterische Identität aus – wie der Stuhl »Ancelle« für Hermès eben.
ceciliemanz.com

© Maxime Tetard

Kunterbunt. Wenn Gustaf Westman ans Gestalten geht, werden die Grenzen skandinavischer Designtradition ausgelotet. Auf jeder Linie überbordend ist der Wasserkrug »Chunky Jug«.
gustafwestman.com

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Japandi. Skandinavisches und japanisches Design sind eng verwandt. Die schwedische Design-Legende Monica Förster kreierte fürs japanische Label Ariake den minimalistischen Schminktisch »Hinode«.
monicaforster.se

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Glasklar. Kristine Five Melvær aus Norwegen hat für das belgische Label When Objects Work mit der »Soft Vase«-Serie einen Klassiker geschaffen, der immer wieder in Boutique-Hotels auf der ganzen Welt auftaucht.
kristinefivemelvaer.com

© When Objects Work Erik Five Gunnerud Inger Marie Grini

Design für alle

Die Grundprinzipien des skandinavischen Designs wurden dann maßgeblich von kreativen Köpfen wie Arne Jacobsen (Architektur und Möbel), Alvar Aalto (Textilien und Möbel), Børge Mogensen (Möbel), Hans J. Wegner (Möbel) und Poul Henningsen (Lampen, Architektur) geprägt. Nebst Funktionalität und Schlichtheit war dabei die enge Verbindung zur Natur ein weiteres Schlüsselelement. Die Gestaltung spiegelte nicht nur eine ästhetische Haltung wider, sondern auch einen nachhaltigen Lebensstil. Materialien wie Holz, Wolle und Leder wurden bevorzugt, weil sie robust, zeitlos und lokal verfügbar waren.

Bis heute gelten diese Prinzipien. Skandinavisches Design steht weitgehend für klare Linien, natürliche Materialien und eine reduzierte Farbpalette. Helle Hölzer wie Birke und Kiefer, Wollstoffe und Keramik dominieren die Gestaltung. Die Farbgebung bleibt meist neutral mit Weiß, Grau und Pastelltönen, um Licht zu reflektieren und Räume größer und freundlicher wirken zu lassen. Funktionalität ist dabei das oberste Gebot: Schönheit ergibt sich aus der Nützlichkeit.

Pflastersteinchen. Materias organische wie asymmetrische Hocker-Serie »Cobble« von Mattias Stenberg zitiert in der Formensprache Kopfsteinpflaster und ist auch ohne integriertes Tischchen zu haben.
mattiasstenberg.com

© 2021 Studio Mattias Stenberg

Eleganz. Norwegisches Design geht immer ein bisschen unter. Schade, denn das Land hat Könner wie Torbjørn Anderssen und Espen Voll am Start, die verlässlich Top-Design wie den Stuhl »Meantime« liefern.
andtradition.com

© HKAARSHOLM.DK

Evolutionsgeschichte

Dabei hat sich skandinavisches Design natürlich auch weiterentwickelt. Sicher, die Grundprinzipien von Minimalismus und Funktionalität sind unverrückbar, aber junge Designer:innen experimentieren mit Formen, Farben und Materialien. So entstehen Werke, die die Grenzen der Tradition herausfordern.

Ein Beispiel ist Gustaf Westman aus Schweden, der mit seinen verspielten, bunten Entwürfen klassische Designnormen hinterfragt. Seine »Curvy Mirror«-Serie oder seine farbenfrohen Möbel sind klare Statements gegen den klassischen Minimalismus. Und doch bleibt sein Design tief in der skandinavischen Tradition verwurzelt: Die handwerkliche Qualität, die durchdachte Funktionalität und die Nähe zu natürlichen Materialien bleiben erhalten. Er steht für eine neue Generation von Designer:innen, die skandinavische Prinzipien mit mutigen, zeitgenössischen Akzenten vereinen.

Heute ist skandinavisches Design ein Synonym für zeitlose Schönheit, Nachhaltigkeit und durchdachte Einfachheit. Es vereint Tradition und Moderne und entwickelt sich dennoch weiter. Dabei ist die Ästhetik längst nicht mehr auf Möbel beschränkt: Mode, Technologie und Architektur werden zunehmend von der skandinavischen Formsprache beeinflusst.

Die Prinzipien des Stils – Funktionalität, Naturverbundenheit und Reduktion – sind allerdings universell anwendbar und sprechen ein globales Publikum an. Vielleicht auch, weil am Ende immer irgendwie der Mensch im Mittelpunkt steht, oder wie es der finnische Architekt und Designer Alvar Aalto einst ausdrückte: »Nichts ist eine Kunst, wenn es nicht das Leben verbessert.«

Erschienen in
LIVING 02/2025

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Manfred Gram
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