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©Chris Singer

LIVING SALON GESPRÄCH : WO SAGT MAN MAHLZEIT?

LIVING Interview

Kein anderes Möbel im Wohnbereich ist kulturell und gesellschaftlich so aufgeladen wie der Esstisch: Hier wird gegessen, hier werden Essenstraditionen weitergegeben, hier lernt man im kleinen Rahmen, zu debattieren. Das haben auch wir gemacht: ein Gespräch mit Architekt Gregor Eichinger, Forscherin Marianne Penker und dem burgenländischen Koch Max Stiegl. 

LIVING Haben Sie ein Lieblings-gericht? 

Marianne Penker Das ist saisonabhängig, aber ganz hoch oben auf der Liste: Erdäpfel, gekocht mit einem Stück Butter und Salz. 

Max Stiegl Ich könnte den ganzen Tag Krautfleckerln essen, darin könnte ich mich eingraben! Und ich mag Muscheln. In Piran, wo ich ja herkomme, isst man das immer und überall. Muscheln – das ist die -Leberkässemmel der Slowen:innen. 

Gregor Eichinger Man referenziert das Lieblingsessen ja meistens in die eigene Kindheit: Bei mir ist das saure Suppe mit Essig und pochiertem Ei, dazu ein -Bauernkrapfen. 

Und in welcher Tischgesellschaft würden Sie dieses Essen am liebsten zu sich nehmen? 

Penker Ich habe eine riesengroße, diskussionsfreudige Verwandtschaft, mit sechs oder sieben Glaubensrichtungen. Diese Tischgesellschaft finde ich sehr anregend. 

Stiegl Ich wollte immer mal mit Barack Obama essen und mich mit ihm über seine Politik unterhalten. 

Eichinger Ich habe mich immer schon am liebsten mit rauchenden Künstlern und Philosophen unterhalten. Früher im Lokal drin, heute vor dem Lokal stehend. 

Warum mit den Rauchern? 

Eichinger Weil sie mit dem Stillen dieses sehr körperlichen Bedürfnisses Bewegung und Stimmung in eine Gesellschaft reinbringen. Wenn ich heute ein Lokal plane, dann versuche ich immer, den Raucher:innenbereich beim Eingang explizit mitzudenken. 

Werfen wir einen Blick in die Geschichte: Seit wann werden Essen und Gesellschaft als Einheit betrachtet?

Eichinger Der Beginn der Architektur ist auch der Beginn des gesellschaftlichen Essens. Höhle, Hütte, Erdgrube, Feuerstelle und Dach über dem Kopf – mit diesen wenigen Basics wurde das Fundament für das gemeinsame Zubereiten und die gemeinsame Nahrungs­aufnahme geschaffen.

Penker Schon vor Millionen Jahren haben die Menschen gemeinsam gejagt, gesammelt und gegessen. So gesehen ist das Essen als kultureller Akt eine Geschichte, die schon lange vor der Sesshaftigkeit und dem Übergang zu Ackerbau und Viehzucht begonnen hat.

Rüssel bis Schwanzerl. Koch Max Stiegl hat sich in seinem »Gut Purbach« darauf spezialisiert, nachhaltig zu kochen und das gesamte Tier zu verwerten. Lieblingsgericht: Krautfleckerl. 

©Chris Singer

Und warum ist in all dieser Überlieferung ausgerechnet das Essen ein so wichtiges Kulturgut? Und nicht zum Beispiel das Schlafen oder der Müßiggang?

Penker Erstens ist das Essen mit vielen sozialen, kulturellen, religiösen Ritualen verbunden – und ist dadurch in vielen anderen Kultur­gattungen mitdokumentiert. Ich denke da nur an das Brotbrechen, an das Tischgebet, an die japanische Teezeremonie, an die buddhistische Essensspende, an die arabische Fastenzeit, an das ­jüdische Sabbat-Dinner und so weiter. Und zweitens ist das Essen – auch in Hinsicht auf die Archäologie – mit zahlreichen materiellen ­Funden belegbar, was die faktische Datenmenge zu diesem Thema einmal mehr erhöht.

Stiegl Wobei man nicht außer Acht lassen darf, dass die Essenskultur im geschichtlichen Rückblick leider auch ein sehr verzogenes Bild liefert.

Inwiefern?

Stiegl Weil das ganz normale Alltagsessen nur sehr geringfügig dokumentiert ist. Wir ­wissen weitaus mehr über Feste und Gelage, über besondere Anlässe, bei denen kiloweise Fisch, Fleisch, Fett, Zucker und Alkohol aufgetischt wurden. Diese Mahle sind in der Kunst und Literatur bestens dokumentiert, aber sie
spiegeln nur einen sehr, sehr kleinen Teil der Essenskultur wider.

Wenn ich an das Barock, die Renaissance, die Romantik denke, so hat sich das Essen – wie Sie gerade gesagt haben – auch in der Kunst ­niedergeschlagen. Wie ist das heute?

Eichinger Als Stillleben wird man Essen ­heute kaum noch irgendwo finden. Die Zeiten der üppig drapierten Fische, Fasane und Kelche voll mit wertvollem Gebräu, die sind vorbei. Aber werfen Sie nur mal einen Blick auf die Filmkultur! Auf die Bedeutung von Architektur im gastronomischen Kontext! Auf kulinarische Reiseführer mit Gabeln, Hauben und Sternen! Ein Fass ohne Boden!

Penker Aber auch das ist wieder nur eine kleine Schicht der Hochkultur! Im ganz normalen Alltag hat das Essen an Bedeutung verloren. Die Zubereitung des alltäglichen Essens – ­oftmals die Arbeit von Frauen – ist unbezahlt und wird nicht wirklich als Leistung anerkannt.

Stiegl Natürlich wird Essen immer mehr zu etwas, das lästig ist und das nix kosten darf. Meine slowenische Oma hat noch mit Stolz gekocht, und bis vor Kurzem hat man auch anerkannt, dass gutes Essen nicht nur einen Wert, sondern auch einen Preis hat.

Penker Das hat sich verändert. Wir geben in Österreich im Schnitt zwölf Prozent der ­Haushaltsausgaben für Essen aus – so wenig wie noch nie.

Stiegl Ich war vor ein paar Wochen mal im Supermarkt Penny. Da haben zwei Avocados 2,79 Euro gekostet – und zwei kleine Hendln gab’s um 2,49 Euro.

Fokus auf Esskultur. Für Forscherin Marianne Penker ist der Esstisch nicht nur ein Ort des Essens, sondern auch der kulturellen und politischen Schule. Ihr Lieblingsgericht: Erdäpfel mit Butter und Salz. 

©Chris Singer

Zwei Hendln um 2,49 Euro?

Stiegl Ich habe es selbst nicht fassen können! Natürlich kaufen das die Leute, und dann ­frieren sie die Hendln ein, weil sie in Anbetracht der Inflation dringend sparen müssen. Aber bei diesen Preisen greifst du dir wirklich an den Schädel!

Penker Statt im Gasthaus zu essen, wird Essen immer häufiger nach Hause bestellt. Der Bote liefert das Essen an die Wohnungstüre, dann kommt es zu einem kurzen sozialen Kontakt, aber gegessen wird das Essen alleine vor dem Fernseher oder dem Computer.

Jetzt sind wir innerhalb von wenigen Minuten vom barocken Stillleben bis zum Untergang der Essenskultur gelangt. Wie denn das? Herr Eichinger, helfen Sie mir!

Eichinger Eigentlich schon ein bisschen traurig, oder? Wir dürfen ja auch nicht vergessen, dass die TV-Kochshows, die wir heute so toll finden, nicht etwa entstanden sind, weil das Essen so wichtig ist. Nein, die Geburtsstunde der TV-Kochshows ist in den 1950er- und 1960er-Jahren in den USA und hatte damals einzig und allein die Aufgabe, das Essen noch schneller, noch billiger, noch ­einfacher zu machen. Erst in den letzten 20 Jahren ist der kulinarische, hedonistische Kultfaktor dazugekommen.

Die Entwicklungen, die Sie angesprochen haben, hat natürlich auch Auswirkung auf das ­Wohnen. Welche denn genau?

Eichinger In vielen Wohnungen gibt es ­heute keinen Esstisch mehr, stattdessen ein paar Barhocker am Küchentresen oder – noch schlimmer – nur noch einen Couchtisch. Das Essen als gesellschaftliches Zeremoniell ist so gesehen aus dem Wohnen verschwunden. Das finde ich sehr bedauerlich.

Penker Aber auch traditionelle Räume und Elemente wie die Speis und der Vorratsschrank sind heute kaum noch anzutreffen. Dafür beobachte ich, wie manche Luxuswohnungen eine hübsche Schauküche und – direkt dahinter – eine funktionale Back Kitchen haben. Das amüsiert mich schon ein wenig.

Eichinger In teure Küchen zu investieren – das gehört zum guten Ton, vor allem dann, wenn man nicht kocht. Das Gleiche gilt ­übrigens auch für Outdoorküchen.

Appetit auf Räume. Der Wiener Architekt und Interior-Designer Gregor Eichinger gestaltet am liebsten Restaurants und Kaffeehäuser. Am
liebsten, sagt er, isst er saure Suppe mit Ei. 

©Chris Singer

Was bedeutet das fürs Wohnen, wenn der ­Esstisch verschwindet, wenn nicht mehr gekocht wird, wenn diese Kultur in Vergessenheit gerät?

Penker So wie Sie sagen: dass eine Kultur in Vergessenheit gerät. Dass man sich nicht mehr zum Essen trifft. Dass man das gemeinsame Essen nicht mehr zelebriert.

Eichinger Kein Weihnachten, kein Osterfrühstück, kein Sonntagsbraten für die ganze Familie, keine Brunches und Abendessen, zu denen man Freund:innen und Bekannte ­einlädt – das hat à la longue natürlich auch Auswirkung auf unser soziales System.

Penker Und auch auf unser demokratisches Verständnis! Am Tisch zu sitzen und mit Freund:innen und der Familie zu diskutieren und zu streiten, das ist nicht zuletzt auch eine wichtige politische Schule. Wenn es den ­familiären Esstisch nicht mehr gibt, dann könnten wir irgendwann einmal die Gabe ­verlieren, zu diskutieren.

Eichinger Am Tisch lernen wir soziale Normen und Umgangsformen. Der Tisch ist ein Gesellschaftsformer!

Herr Stiegl, in Ihrem Restaurant »Gut Purbach« spielt der Tisch eine große Rolle. Sie haben ausschließlich runde Tische, Roland-Rainer-Stühle und großformatige Kunst an den Wänden.

Stiegl Ja, denn das Auge isst mit. Runde Tische brechen Hierarchien auf, es gibt keine Ecken, keine schmalen und keine langen ­Seiten, und die Stühle und die Kunst sind für mich ein Commitment zum Wohlfühlen. Und dann braucht es natürlich auch noch das richtige Licht.

Eichinger Das Licht spielt eine enorm ­wichtige Rolle. Ich habe in einigen Lokalen, wo ich als Troubleshooter eingeladen war, die Stimmung, das Wohlfühlen und auch die Lokalbewertungen verbessert – nur indem ich das Licht verändert habe. Am Ende des Tages schauen sie anders auf das Thema Fleisch als noch zuvor.

Penker Und sie haben einen Crashkurs in nachhaltigem Essen bekommen, denn die Nose-to-Tail-Küche, die Sie hier vorleben, ist ja nichts anderes als eine sehr ganzheitliche, ­ressourcenschonende Ernährung, die ganz im Gegensatz zu unserer verschwenderischen Steak- und Filet-Kultur steht.

 

In vielen Wohnungen gibt es heute keinen Esstisch mehr. Das Essen als gesellschaftliches Zeremoniell ist damit aus dem Wohnen verschwunden – sehr bedauerlich.

Gregor Eichinger Architekt und Interior-Designer

Ein Blick in die Zukunft: Wie werden wir uns im Jahr 2050 ernähren?

Stiegl Ich glaube, dass der Trend zu regionaler, nachhaltiger Küche noch weiter zunehmen wird. Aus kulturellen und gesundheitlichen Gründen wird der Fleischkonsum zurückgehen. Und ich hoffe nicht, dass wir dann jeden Tag Borschtsch essen werden.

Penker Dafür produzieren wir in Österreich eh viel zu wenig Gemüse! Die Zufuhr von ­Proteinen wird vielfältiger werden – nicht nur Fisch und Fleisch, sondern auch Linsen, ­Bohnen, Nüsse, Algen oder Insekten. Rund 1,1 Millionen Menschen leiden in Österreich an Ernährungsarmut. Das müssen wir dringend
in den Griff kriegen!

Eichinger Österreich ist ein gastronomischer Muskel in Europa. Ich bin davon überzeugt, dass sich die österreichische Küche gut weiterentwickeln wird. Und dann wird Max Stiegl nicht mehr zum Sautanz, sondern zum ­Kukuruztanz einladen.

Die Gegenfrage zum Lieblingsessen: Was wird bei Ihnen niemals am Teller landen?

Penker Natto, fermentierte Sojabohnen. Ich habe in Japan gelebt, aber das schaffe ich leider nicht.

Eichinger Oktopus. Das ist so ein gscheites, emotional hochintelligentes Lebewesen, das könnte ich niemals essen.

Stiegl Rohe Eidotter und Käsesaucen. Unmöglich!

Die Gesprächspartner:innen

Marianne Penker (53) studierte Jus und Landschaftsplanung in Wien und Mailand. Sie ist Professorin am Institut für Nach-haltige Wirtschaftsentwicklung an der BOKU University Wien und forscht als Nachhaltigkeitswissenschaftlerin zu den Themen Essen als Kulturgut und nach-haltige Agrar- und Ernährungssysteme. Zudem ist sie Vorsitzende des UNESCO Man and the Biosphere Nationalkomitees an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. boku.ac.at

Max Stiegl (44) wurde in Slowenien -geboren und kam mit sechs Jahren nach -Österreich. Er absolvierte eine Kochlehre in Salzburg. 2007 eröffnete er das »Gut -Purbach« im Burgenland. Seine Küche ist eine Mischung aus regional und innovativ nach dem Prinzip von »Nose to Tail« – das heißt, dass alle Teile des Tieres verarbeitet und verkocht werden. 2019 war er in der TV-Serie »Kitchen Impossible« zu sehen. Aktuell arbeitet an einem Buch über Zucker. gutpurbach.at, stieglmax.at

Gregor Eichinger (68) studierte Architektur und leitete von 1976 bis 2005 mit Christian Knechtl das Büro eichinger oder knechtl. Heute arbeitet er als Architekt und Interior-Designer mit dem Schwerpunkt Gastronomie. Zu seinen Projekten zählen u. a. das »Café Prückel«, das »Café Ansari« und das Restaurant »Lugeck«. Er hatte Professuren in Zürich und München und Lehraufträge in Wien, Düsseldorf und Los Angeles. 2007 wurde er mit dem Architekturpreis der Stadt Wien ausgezeichnet. eichingeroffices.com

Erschienen in
LIVING 02/2025

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Wojciech Czaja
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