»Kunst ist nie neutral«: Dr. Ralph Gleis, Generaldirektor der Albertina, im Gespräch
Was braucht es, damit ein Museum mehr ist als ein Ort des Wissens? Mehr Teilhabe, neue Perspektiven und starke Themenausstellungen: Ralph Gleis will die Albertina zum offenen Ort für Kreativität und Dialog machen. Im LIVING-Talk spricht er über moderne Museumsarbeit, Vielfalt und die Aufgaben eines Ausstellungshauses heute.
Erkenntnisgewinn
Die Albertina neu denken – als zukunftsgerichtete Institution mit Ausstellungen, die aktuelle Fragen aufgreifen und Geschichten hinter den Namen erzählen.
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ZUGÄNGE SCHAFFEN
Nach Stationen im Wien Museum und an der Alten Nationalgalerie Berlin ist Ralph Gleis seit Jahresbeginn Generaldirektor der Albertina Wien. Sechs Jahrhunderte Kunst, große öffentliche Sichtbarkeit und das Potenzial, neue Akzente für das 21. Jahrhundert zu setzen, machen das Haus für den aus Münster stammenden Kunsthistoriker zu einem Ort der Weiterentwicklung.
LIVING: Herr Gleis, Sie sind seit 1. Jänner im Amt. Wie haben Sie die ersten Monate erlebt – was hat Sie überrascht, was bestätigt Ihre Erwartungen?
Ralph Gleis: Das halbe Jahr war intensiv, aber auch unglaublich bereichernd. Ich habe ein Haus voller Kompetenz und Leidenschaft vorgefunden. Gleichzeitig zeigt sich täglich, wie offen das Team für neue Ideen ist, was gute Voraussetzungen für gemeinsame neue Wege schafft.
Wird Ihre Handschrift im Ausstellungsprogramm 2025 bereits sichtbar?
Das wird sie. Denn es war ein Privileg, seit meiner Ernennung 2023 gemeinsam mit demkuratorischen Team am Programm für 2025 zu arbeiten, wodurch es durch seine Vielfalt und Offenheit meine Handschrift trägt. Wichtig war mir, neben zeitgenössischen Positionen mit der großen Schau »Leonardo – Dürer« auch Meisterzeichnungen der Renaissance in neuer Perspektive zu zeigen. Wir präsentieren internationale Künstler:innen wie Jenny Saville oder Matthew Wong umfassend in Österreich und stellen sie bewusst in überraschende Kontexte. Weltweit erstmals in einer Museumsausstellung zu sehen sind Zeichnungen von Damien Hirst, inklusive seiner Zeichenmaschine, die das Publikum vor Ort selbst bedienen kann. Unsere Besucher:innen können Kunst also aktiv erleben, kreativ werden und ihr eigenes Werk mitnehmen. Zudem holen wir unveröffentlichte Bestände der Sammlung hervor, darunter Johann Wolfgang von Goethe als Zeichner in der Ausstellung »Fernweh«.
Ein Museum soll Position beziehen, ohne parteipolitisch zu werden. Es soll Orientierung bieten, ohne zu missionieren.
Sie sagen, jede Ausstellung müsse beantworten: »Warum machen wir sie hier und jetzt?« Was bedeutet das konkret?
Es geht darum, Bedeutungen zu schaffen und mit unseren Ausstellungen Fragen zu stellen, die aktuell sind. Mein Ziel ist es, dass unsere Besucher:innen die Albertina mit neuen Sichtweisen verlassen und einen Mehrwert erhalten. Wir fragen, welche Themen die Menschen heute bewegen, was sie mit historischen oder zeitgenössischen Werken verbindet und wie Kunst neugierig macht und Räume zum Nachdenken öffnet. Kunst ist weit mehr als nur ästhetisch ansprechend: Sie ist vor allem ein Spiegel ihrer Zeit.
Welche Schwerpunkte möchten Sie künftig an den drei Standorten stärker betonen?
Jeder Standort der Albertina hat ein eigenes Profil: Die Albertina zeigt einen Überblick über die Kunstgeschichte von der Gotik bis zur Gegenwart und umspannt dabei sechs Jahrhunderte. Die Albertina Modern ist ein Ort für die Moderne, die Albertina Klosterneuburg wird vor allem für Kunst nach 1945 sowie raumfüllende skulpturale und installative Kunst genutzt, etwa mit der aktuellen Ausstellung »De Sculptura«. Mein Ziel ist es, diese Formate weiter zu schärfen sowie das Gesamtkonzept der Albertina als vielseitige und interdisziplinäre Institution weiterzuentwickeln.
In welche Richtung soll sich die Sammlung entwickeln?
Wir wollen den Sammlungskern erweitern sowie die grafischen Bestände mit zeitgenössischen Werken verstärkt in Dialog treten lassen, auch mit Fokus auf Diversität, weibliche Perspektiven, globale Stimmen. Erste Schritte sind bereits gesetzt, etwa mit dem geplanten Ankauf eines Triptychons von Leiko Ikemura.
Was bedeutet das? Streben Sie Wachstum oder inhaltliche Fokussierung an?
Ich setze auf Fokussierung, auf das, was wir wirklich gut können. Wachstum ist nicht nur eine Frage der Größe, sondern der Tiefe. Qualität entsteht durch Konzentration. Wenn das Angebot stimmt, stellt sich Wachstum ganz von selbst ein und ist gewissermaßen der positivste aller Nebeneffekte.

Albertina Klosterneuburg
Mit dem Fokus auf Kunst nach 1945 und neuen, familienfreundlichen Konzepten soll der Museumsbesuch in Niederösterreich noch mehr Menschen ansprechen.
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Wie sehen Sie die nahe Zukunft im Kontext knapper Kulturbudgets? Braucht es neue Modelle der Finanzierung?
Es braucht neue Allianzen – privat, öffentlich, international. Wir müssen stärker auf Kooperationen und Projektförderung setzen, aber auch selbstbewusst mit unseren Inhalten Partner:innen ansprechen, denn die Sammlung ist ein wahrer Schatz.
Sie sprechen von der »Albertina für alle«. Wo liegen die größten Herausforderungen?
Die größte Herausforderung ist, Menschen anzusprechen, die bisher kaum oder gar nicht ins Museum kommen – aus sozialen, sprachlichen oder körperlichen Gründen. Wir müssen Barrieren abbauen, nicht nur architektonische, sondern auch in Ansprache und Vermittlung. Ich möchte ein »Museum ohne Wände« mit breitem digitalem Angebot. Schon jetzt haben wir inklusive Programme, etwa für Menschen mit Trisomie 21, blinde oder gehörlose Besucher:innen. Es geht darum, das Museum als offenen Raum für alle zu denken.
Wie sozial kann ein Museum dieser Größe sein, wenn es um Eintrittspreise geht?
Kaum ein Museum im internationalen wie auch im nationalen Vergleich bietet so viele unterschiedliche Kunsterlebnisse für einen so attraktiven Preis. Und selbstverständlich gibt es dazu noch viele Ausnahmen. Finanziell Benachteiligte erhalten mit dem Kulturpass kostenlosen Eintritt, das gilt auch für unter 19-Jährige, Ermäßigungen gibt es für Besucher:innen unter 26 oder Menschen mit Behinderung.
Wie möchten Sie Menschen erreichen, die sich bisher nicht angesprochen fühlten?
Wir arbeiten an neuen Vermittlungsformaten, barrierearmen Zugängen und niedrigschwelligen Angeboten. Ein Beispiel ist die interaktive Damien-Hirst-Ausstellung oder unsere Kindervernissagen nach dem Prinzip »Kids first«, bei denen Familien unsere neuen Ausstellungen noch vor allen anderen Gästen sehen können. Vieles passiert im Museum.

Albertina Modern
Partizipative Formate, wie die Damien-Hirst-Zeichenmaschine, binden das Publikum aktiv ins Ausstellungsgeschehen ein.
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Wie wird die Albertina zum Ort für Kreativität und Dialog über Ausstellungen hinaus?
Indem wir Plattformen schaffen: für Diskurs, für Vermittlung, für eigene Kreativität. Das reicht von Vorträgen bis hin zu partizipativen Formaten oder Angeboten im digitalen Raum. Ein Museum ist nicht nur Ort der Betrachtung, sondern auch der Begegnung.
Ist Reichweite auch ein Qualitätsmaßstab?
Sie ist jedenfalls nicht das einzige Kriterium. Aber wenn viele Menschen sich angesprochen fühlen, zurückkehren, diskutieren, dann ist das ein Zeichen für Relevanz und Qualität. Wir wollen nicht elitär, sondern offen und dennoch hochqualitativ sein.
Es heißt, jedes Museum spiegelt auch seinen Direktor. Welche Ihrer Eigenschaften spiegelt die Albertina?
Neugier, Präzision und das Vertrauen darauf, dass Kunst uns etwas zu sagen hat.
Wann wissen Sie, dass Ihre Vision erfolgreich umgesetzt wurde?
Wenn die Menschen sagen: »Ich komme immer wieder gerne in die Albertina, weil es dort spannende Ausstellungen gibt, die zum Nachdenken, zur Diskussion anregen, ich mit anderen Menschen gute Gespräche führen kann und einen Ort habe, an dem ich mich wohl fühle.«